Zum 100. Geburtstag
Diesen Autor auf eine Satzlänge zu reduzieren, wird ihm nicht gerecht: James Baldwin. © imago / GRANGER Historical Picture Archive
James Baldwin als Influencer
Der afroamerikanische Autor James Baldwin hat etliche bedeutende Bücher geschrieben. Doch heute wird er oft auf kurze Zitate in Social Media reduziert. Ein Appell, den Schriftsteller zu seinem 100. Geburtstag neu zu entdecken.
James Baldwin führt fast vier Jahrzehnte nach seinem Tod 1987 ein Nachleben als Influencer auf Social Media. Ausgerechnet er, der Schriftsteller, der das Fernsehen als ein Medium betrachtete, das seine Landsleute in den USA davon abhielt, erwachsen zu werden, ist allgegenwärtig im Internet, dem Medium des 21. Jahrhunderts. Das liegt daran, dass es ungezählte Fotos von Baldwin gibt, die man heute instagrammable nennen muss; und Filmaufnahmen, die auch als kurze Videoclips sein Charisma ahnen lassen. Nicht zuletzt finden sich in Baldwins Werk Sätze, die man früher – je nachdem – als Aphorismen oder als Kalendersprüche bezeichnet hätte – und die heute genau in die Fenster jener Plattform passen, die bis vor kurzem Twitter hieß.
Zum Beispiel: „Not everything that is faced can be changed; but nothing can be changed until it is faced.” (Nicht alles, womit man konfrontiert ist, lässt sich ändern; aber nichts kann verändert werden, bevor man es nicht konfrontiert.) Oder: "Anyone who has ever struggled with poverty knows how extremely expensive it is to be poor." (Jeder, der jemals mit Armut zu kämpfen hatte, weiß, wie äußerst teuer es ist, arm zu sein.) Oder: "Everyone wishes to be loved, but, in the event, nearly no one can bear it." (Jeder möchte geliebt werden, doch wenn es geschieht, kann es fast keiner ertragen.)
Baldwin-Zitate ohne Beleg
Die Zitate stammen aus einem Essay für den „New York Times Book Review“ von 1962, aus einem Artikel für „Esquire“ von 1960 und aus dem Roman „Tell Me How Long the Train’s Been Gone“ („Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort”) von 1968. Aber die Quellenangaben entscheiden nicht über den Erfolg auf Social Media, auch nicht der Kontext. Eher die Machart dieser Sentenzen. Sie adressieren „jeden“ und „keinen“, und sie bringen Gegensätze auf engstem Raum zusammen, arm und teuer, Wünsche und die Kunst, die Wunscherfüllung anzunehmen.
So einflussreich ist der Name James Baldwin inzwischen, dass ein Spruch, der ihm zugeschrieben wird, mit Erfolg im Internet kursiert – obwohl es keinen Beleg dafür in seinem veröffentlichten Werk gibt: „To be African American is to be African without any memory and American without any privilege.” (Afroamerikaner zu sein bedeutet, Afrikaner ohne Gedächtnis und Amerikaner ohne Privileg zu sein.)
Kunstvoll gebildete Sätze
Baldwins posthume Karriere als Lieferant kompakter Sentenzen ist auch deshalb so erstaunlich, weil das durchschnittliche Ausmaß seiner Sätze, gefühlt, zehnmal länger ist als ein Tweet. Typisch für diesen Autor sind eher kunstvoll geformte Gebilde mit Nebensätzen, Einschüben, Verästelungen, jedenfalls mit so vielen Kommas, wie sie das Schulenglisch nicht kennt. Beides, der pointierte ebenso wie der ausladende Satz, sind Ausprägungen von Baldwins außergewöhnlichem rhetorischem Talent, das er schon seit seiner Jugend einsetzte.
Mit 14 Jahren ergriff er, der Sohn eines Baptistenpredigers, regelmäßig das Wort auf der Kanzel in einer der afroamerikanischen christlichen Gemeinden in Harlem. Mit 17 kehrte er der Kirche den Rücken. Zu viel Sittenterror, zu viel Heuchelei hatte er erlebt. Vor allem wollte er nicht auf die weltlichen Seiten des Lebens verzichten, weder auf Kino oder Alkohol noch auf die Liebe – Liebe zunächst zu Frauen und Männern, später ausschließlich mit männlichen Partnern. Mit 23 veröffentlichte er seine ersten Buchbesprechungen, mit 25 seine ersten Essays, mit 29 seinen ersten Roman, „Go Tell It on the Mountain“ („Von dieser Welt“). Das Buch gilt bis heute als Meisterwerk – mit einer Sprache, die dem schwarzen Englisch auf den Straßen von Harlem ebenso viel verdankt wie der King James Bibel.
Rassismus entmenschlicht auch Rassisten
Baldwins knackige Zitate auf Kacheln im Internet oder auf bedruckten T-Shirts machen den Autor und seine Botschaften weithin sichtbar. Und zugleich verdecken sie etwas – etwa den sanften Sog, den eine Liebesgeschichte wie die in seinem zweiten Roman „Giovannis Zimmer“ (1956) entwickelt. Oder die so fein schattierten Beschreibungen der Energien zwischen den Figuren in „Ein anderes Land“ (1962). Oder die eigentümliche Mischung aus unerschütterlicher Entschiedenheit (etwa in der Anklage von Rassismus) und feiner Differenzierung (in der Analyse desselben Rassismus), wie sie seine Essays vorführen, am prominentesten „The Fire Next Time“ ("Nach der Flut das Feuer", 1963) und „No Name in the Street“ ("Kein Name bleibt ihm weit und breit", 1972). Oder nicht zuletzt: Baldwins anhaltende Provokation, den Weißen vorzuhalten, dass sie unter ihrem eigenen Rassismus nicht weniger, nur anders, leiden als die Schwarzen – weil sie sich selbst innerlich entmenschlichen, indem sie andere entmenschlichen.
Kein Einwand also dagegen, dass James Baldwin, der am 2. August 1924 geboren wurde, heute mit kurzen Sätzen seine Bekanntheit steigert. Nur bleibt zu hoffen, dass das Publikum früher oder später auch zu seinen Büchern greift. Darin gibt es eine Welt zu erkunden, die durch und durch von seiner Erfahrung als Schwarzer und Homosexueller in Harlem, New York zehrt – und die unbedingt auch Menschen berührt, die nicht US-amerikanisch, homosexuell oder schwarz zur Welt gekommen sind. Um es mit einem Zitat dieses Autors zu sagen: „You think your pain and your heartbreak are unprecedented in the history of the world, but then you read.” (Du denkst, dein Schmerz und dein Liebeskummer sind beispiellos in der Geschichte der Welt, aber dann fängst du an zu lesen.) Wir sollten nicht zuletzt James Baldwin lesen.