James Graham Ballard: "Betoninsel"

Finsterer Gegenpol zu modernen Landlust-Fantasien

James Graham Ballards Roman "Die Betoninsel".
James Graham Ballards Roman "Die Betoninsel". © imago/imagebroker/diaphanes
Von Frank Kaspar |
Robert Maitland bricht mit seinem Auto durch die Leitplanke und rutscht eine steile Böschung hinunter: Im Gestrüpp einer Verkehrsinsel ist der erfolgreiche Architekt plötzlich auf sich gestellt. Der Verlag Diaphanes veröffentlicht J. G. Ballards Roman "Betoninsel" von 1974.
Ein Mann kommt auf einem Autobahnkreuz ins Schleudern und strandet im Niemandsland zwischen den Fahrbahnen. J. G. Ballards Roman "Betoninsel" aus dem Jahr 1974 erzählt von einer Verwilderung im toten Winkel von London. Jetzt ist er im Verlag Diaphanes wiederzuentdecken.
Das Buch beginnt wie ein Unfallbericht. Gleich der erste Satz gibt Ort und Zeit des Ereignisses an, das die Hauptfigur aus allen sozialen Bindungen katapultiert. Robert Maitland, Mitte Dreißig, bricht mit seinem Auto durch die Leitplanke und rutscht eine steile Böschung hinunter.
Im Gestrüpp einer Verkehrsinsel ist der erfolgreiche Architekt plötzlich auf sich gestellt. Verletzt an Beinen, Brust und Kopf, schafft er es nicht, von dem Gelände herunter zu kommen. In Sichtweite der Londoner Bürotürme droht er ohne Wasser und Nahrung zu sterben wie ein Tier in der Savanne.

Ein Teil von Ballards "urbaner Trilogie"

Der Autor datiert diesen Unfall auf den 22. April 1973, wenige Monate vor dem Erscheinen des Romans. J. G. Ballard hatte sich Anfang der 70er-Jahre bereits einen Namen als Science-Fiction-Autor gemacht. Die ferne Zukunft oder entfernte Planeten interessierten ihn jedoch weit weniger als der "Inner Space", die psychische Innenwelt höchst gegenwärtiger Charaktere.
"Betoninsel" gilt als Teil von Ballards "urbaner Trilogie". Ein Jahr zuvor inszenierte er in dem Roman "Crash" detailverliebt und drastisch den Autounfall als sexuelle Obsession. 1975 folgte mit "High Rise" die Eskalation eines utopischen Wohnprojekts, der britische Regisseur Ben Wheatley brachte diese in Orgien und Massaker rivalisierender Clans mündende Geschichte 2016 auf die Leinwand.
Auch "Concrete Island" handelt von Triebhaftigkeit und sozialer Inkompetenz des modernen Menschen. Ballards Buch liest sich heute wie ein finsterer Kontrapunkt zu aktuellen Stadtflucht- oder Landlust-Fantasien von einem besseren Leben. Mitten in London verliert Robert Maitland den Rückhalt der Zivilisation.
Mit dem nüchternen Blick eines Versuchsleiters registriert der Erzähler, wie seine Fluchtversuche scheitern, wie Verletzungen und Fieberschübe ihm zusetzen, aber ebenso präzise erfasst er seine inneren Konflikte, Beweggründe und Abgründe. Ballard gestaltet Maitlands Überlebenskampf als psychologisches Drama, auch dann noch, als der Gestrandete bemerkt, dass er auf der Insel nicht allein ist.

Gute Analyse auch nach mehr als 40 Jahren

"Betoninsel" ist das Protokoll einer Verwilderung. Von allen Regeln und Rücksichten entbunden, ringt Maitland um Selbstbehauptung. Die menschliche Natur, die dabei zum Vorschein kommt, ist nicht gut, ja, sie ist nicht mal ganz Natur. Zu tief sitzen die Blessuren und Dressuren der Psyche, als dass im Abseits der Stadt eine gerechtere Gegenwelt möglich wäre.
Die Logik gegenseitiger Ausbeutung bricht sich dort umso heftiger Bahn. Man braucht Ballards zutiefst pessimistische Sicht auf die Moderne nicht zu teilen, um seinen Roman mit Gewinn zu lesen. Subtil führt er Mechanismen der Ausgrenzung vor Augen und zeigt, wie wir je nach unseren Annahmen oder Wünschen hinsehen, wegsehen oder uns die Realität zurechtsehen. Diese Analyse trifft auch nach mehr als vierzig Jahren noch ins Ziel.

James Graham Ballard: "Betoninsel"
Aus dem Englischen von Herbert Genzmer
Diaphanes Verlag, Zürich/Berlin
2017, 175 Seiten
15 Euro