James Hawes: "Die kürzeste Geschichte Englands"
Aus dem Englischen übersetzt von Stephan Pauli
Ullstein Verlag, Berlin 2021
400 Seiten, 10 Euro
"Ich glaube, wir stehen vor bürgerkriegsähnlichen Zuständen"
13:21 Minuten
Die Kolonialzeiten sind passé, Schottland ist vor dem Absprung: Das Vereinigte Königreich bröckelt nach Meinung des Autors James Hawes seinem Ende entgegen. England stehe alleine da. Wie es dazu kam, beschreibt er in "Die kürzeste Geschichte Englands".
Der britische Germanist und Autor James Hawes schrieb vor ein paar Jahren "Die kürzeste Geschichte Deutschlands". Darin analysiert er unter anderem die deutsche Teilung. Nun hat er mit "Die kürzeste Geschichte Englands" nachgelegt.
Die vielleicht etwas verblüfften Leserinnen und Leser erfahren: Auch England ist ein Land, das durch eine tiefe Spaltung geprägt ist. Nicht die in Ost und West, sondern eine Teilung in Nord und Süd.
Viele mögen jetzt spontan an die durch starke soziale Spannungen geprägte Thatcher-Ära denken, die zu gesellschaftlichen Verwerfungen führte und die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Arbeitern und Upper Class noch deutlicher werden ließ. Doch James Hawes belehrt sie eines Besseren: "Diese Spaltung begann nicht erst mit der Thatcher-Ära, sondern schon früher. Sie geht tief, tief in die Geschichte Englands zurück."
Als die Normannen England eroberten
Genau genommen habe die Spaltung 1066 ihren Anfang genommen, als die Normannen England eroberten und sich bald im reichen und kulturell weiter entwickelten Südosten der Insel eine französisch sprechende Elite bildete, die das Land bis heute präge: Im Norden die Industrie- und Arbeiterstädte, im Süden das Finanzzentrum, die Elite-Unis wie Cambridge und Oxford und die teuren Privatschulen.
Dass es für Vertreter des "einfachen Volkes" immer schon möglich war, zur herrschenden Oberschicht aufzuschließen und gesellschaftlich aufzusteigen, sei nur ein scheinbarer Widerspruch, sagt Hawes: "Es liegt daran, dass England 300, 400 Jahre lang eine Kolonialgesellschaft war. Und in dieser herrschenden Gesellschaft war man offen gegenüber Menschen, die ihre Kultur adaptieren – denn sonst hätte man einfach nicht genug Leute, um das Land zu regieren."
Gezielter Nachschub für die Eliten
Das sei schon während der Zeit der Normannenherrschaft so gewesen: "Wer mit der französisch sprechenden Elite kollaborierte, wurde nach und nach herein gelassen." Das sei über die Jahrhunderte die Methode der Wahl für die britischen Eliten gewesen, um weiterzubestehen.
Mit Blick auf den Brexit sagt Hawes: Dieser sei eine "Nebenerscheinung des Verfalls des Vereinigten Königreiches", vorangetrieben von einer kleinen Gruppe aus dem reichen Südosten Englands, die diese Region eigentlich am liebsten zu einem weiteren Staat der USA machen wollten. "Das war immer ihr Ehrgeiz seit den 90er-Jahren: Sie wollten weg aus der EU und ein Teil von Amerika werden." Und Donald Trump sei "ihr Held" gewesen.
Fest steht für Hawes: Schottland werde sich bald selbständig machen wie vor über 100 Jahren Irland. "Was dann aus England wird, weiß niemand so genau." Das Land stehe ohne EU allein da. "Ich glaube wirklich, wir stehen vor bürgerkriegsähnlichen Zuständen", befürchtet der Autor.