Jamie Johnson: "Growing Up Travelling. The Inside World of Irish Traveller Children"
Mit einem Vorwort von Mary M. Burke
Kehrer-Verlag, Heidelberg/Berlin 2020
112 Seiten, 86 Abbildungen, 39,90 Euro
Am Rand der Gesellschaft, aber eins mit sich
07:36 Minuten
30.000 "Traveller" leben in Irland, ein "fahrendes Volk", das seit 2017 als ethnische Minderheit anerkannt ist. Das Leben der Traveller-Kinder zwischen Armut, Ausgrenzung, Stolz und Freiheitsliebe zeigt der zauberhafte Fotoband "Growing Up Travelling".
Seit vielen Jahren reist die US-amerikanische Fotografin Jamie Johnson rund um die Welt. Sie ist für ihre einfühlsamen Kinderporträts bekannt geworden. Im Jahr 2014 kam sie das erste Mal nach Irland und war sofort fasziniert vom Leben der an den Rand der Gesellschaft gedrängten, extrem armen und doch auf ihre Selbstständigkeit, Kultur und Tradition ungemein stolze Bevölkerungsgruppe der "Irish Traveller". Immer wieder besuchte Johnson Mitglieder des "fahrenden Volkes", begleitete sie auf ihren Reisen und in ihrem Alltag. Ihr besonderes Interesse galt den Kindern, wie sie aufwachsen und ihr Dasein in einer sozial ausgegrenzten Gruppe empfinden: "Growing Up Travelling. The Inside World of Irish Traveller Children" heißt das jetzt erschienene Fotobuch.
Alle Versuche, sie in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren, sind bislang am beiderseitigen Misstrauen gescheitert. Viele Traveller befürchten, dass ihre Kultur und Sprache verschwindet, ihre unbedingte Freiheitsliebe im Mainstream der sozialen Angleichung verloren geht. Oft hat sich gezeigt, dass die Gesellschaft die Integration auch nicht wirklich ernst meint. Die Vorurteile gegenüber dem "fahrenden Volk" sind nicht auszurotten: Auch Traveller, die sesshaft werden wollen, werden sozial ausgegrenzt, bekommen keine Arbeit, leben in ärmlichen Behausungen, die Kinder brechen die Schule frühzeitig ab – ein ewiger Kreislauf der Ausgrenzung und Armut.
Seit jeher ausgegrenzt
Ihre Herkunft liegt im Dunkeln der Geschichte: Vermutet wird, dass die Traveller aus dem Widerstand gegen die Eroberung Irlands durch Oliver Cromwell entstanden sein könnten, vielleicht aber auch als Reaktion auf die großen Hungersnöte, von denen Irland immer wieder heimgesucht wurde. Sie selbst nennen sich "Pavee", abfällig werden sie "Tinker" gerufen, weil sie ihr Geld traditionell als Kesselflicker und Handwerker verdienen. Diffamiert werden sie als "Gypsies" (Zigeuner), aber sie sind ethnisch nicht verwandt mit den Sinti und Roma, sprechen eine Sprache, die sie "Shelta" nennen.
In Irland sind die Traveller erst seit 2017 offiziell als ethnische Minderheit anerkannt, es leben ungefähr 30.000 in Irland und einige Tausend verstreut in aller Welt. In Deutschland treffen sich manchmal im Frühjahr einige Hundert Traveller, sie kommen aus verschiedenen Ländern und feiern im Großraum Düsseldorf und Mönchengladbach Familienfeste und irische Gebräuche. Das ruft regelmäßig die Polizei auf den Plan, weil die Traveller, die sich nicht gängeln und bevormunden lassen wollen, von den Einheimischen angespuckt, angefeindet und beleidigt werden: Aggressionen und Schlägereien sind keine Seltenheit.
Starke Jungs und herausgeputzte Mädchen
Jamie Johnson, das spürt man sofort beim Betrachten der Schwarz-Weiß-Fotos, die auf scharfe Konturen und Kontraste angelegt sind, hat das Vertrauen der Traveller gewonnen: Die Kinder schauen mit offenen Augen und stolzem Blick in die Kamera und posieren regelrecht für die Aufnahmen. Sie wollen zeigen, wer sie sind, was sie ausmacht, wie sie leben.
Die Kamera ist dabei, wenn die Jungs sich ihre Boxhandschuhe überstreifen und untereinander ihre Revier- und Rudel-Kämpfe austragen, wenn die Mädchen sich schminken, schicke Kleider überstreifen und sich herausputzen. Die Kinder führen vor, wie selbstverständlich sie mit den Pferden umgehen, sie tun so, als wären sie schon erwachsen, öffnen sich eine Dose Bier und paffen eine Zigarette. Sie nehmen die Fotografin mit auf den Spiel- und auf den Rummelplatz, albern herum, essen Eis, fahren Karussell, zeigen ihr, wo sie schlafen, wie beengt es im Wohnwagen ist, aber auch, wie schön sie das alles finden und dass sie es niemals missen möchten.
Man braucht nicht mit der Lupe auf die Fotos schauen, um zu merken, dass die Kinder die strengen Hierarchien und traditionellen Strukturen ihrer Familien nachspielen: Die Jungs geben sich cool und tough, die Mädchen lieben es, sich – wenn auch mit einem ironischen Grinsen – puppenhaft schön zu machen und auf ihre Rolle vorzubereiten. Denn bei den Travellern bleibt alles so, wie es immer war: Die Männer haben das Sagen und besorgen das Geld, die Frauen kümmern sich um den Wohnwagen und bekommen möglichst früh möglichst viele Kinder.
Kindermund tut Wahrheit kund
Die Fotos sprechen für sich, bräuchten keine Erläuterungen und Kommentare. Aber ein einleitender Essay über die Kultur und Geschichte der "Irish Traveller" ist dann doch hilfreich, um sich im Gestrüpp aus Urteilen und Vorurteilen, romantischer Verklärung und bitterer Realität zurechtzufinden, einschätzen zu können, ob die Traveller auf lange Sicht eine Chance haben, ihre unzeitgemäße Lebensweise zu bewahren, die scheinbar fern aller digitalen Versuchungen und Manipulationen stattfindet und von der Moderne nichts weiß: Ein Computer oder ein Handy ist auf den Bildern jedenfalls nicht zu finden.
Ein altes Sprichwort lautet: "Kindermund tut Wahrheit kund", deshalb stellt Jamie Johnson neben ihre Foto-Porträts manchmal ein paar Worte, die den Kindern – unabsichtlich und ohne Hintergedanken – über die Lippen gekommen sind und die offenbaren, wie sie ticken und was sie fühlen. Ein Junge sagt: "Viele Leute in Irland hassen die Traveller. Meine Mutter meint, ich soll einfach den Kopf einziehen und weitergehen."
Zwei kleine Mädchen spielen Versteck in ihrem Wohnwagen und wissen schon jetzt, dass die Welt da draußen zu ihnen ziemlich unfreundlich sein kann: "Die Leute mögen es nicht, wenn wir in ihrer Nähe sind." Neben einem Foto, auf dem drei kleine Bengel versuchen, wie große Erwachsene auszusehen, steht: "Für Traveller-Jungs ist es wichtig, stark zu sein." Ein Mädchen im schicken Sonntags-Outfit und mit einer Puppe im Arm meint: "Wenn ich erwachen bin, werde ich eine gute Mutter sein und viele Kinder bekommen, genau wie meine Mutter."
Man kann das als unreflektierte Meinungen von naiven Kindern lesen, die sich – wie ihre Eltern – in einer Art Wagenburg-Mentalität gegen alles Fremde und Feindliche wappnen und ihre Stärke und Identität aus dem Zusammenhalt ihrer Gruppe beziehen. Wenn wir aber am Ende dieses ebenso zauberhaften wie irritierenden Fotobandes zwei Mädchen sehen, wie sie herumtollen, Radschlagen, ihre Pferde streicheln und erklären: "We like who we are", dann könnte man auf den Gedanken kommen: Wäre es nicht wünschenswert, wenn wir alle so eins wären mit uns und dem, was und wer wir sind und wie wir leben?