Jan Bürger: "Zwischen Himmel und Elbe"
Eine Hamburger Kulturgeschichte
C.H. Beck, München 2020
384 Seiten, 24 Euro
Hamburg für Anfänger
05:26 Minuten
Der Literaturwissenschaftler Jan Bürger folgt Motiven und Menschen durch Hamburg für ein Stadtporträt. Er hat ein Talent für schillernde Zitate und springt gelenkig durch die Jahrhunderte. Doch wichtige Aspekte der Stadtgeschichte bleiben unerzählt.
Von Tom Jobim stammt der Satz "Brasilien ist nichts für Anfänger". Gleiches lässt sich über Hamburg sagen, einer Stadt zwischen strengem Protestantismus und marktfreudiger Weltoffenheit, zwischen Hanseatentum und Subkultur, zwischen Aufklärung und seinem Gegenteil. Jan Bürgers Kulturgeschichte "Zwischen Himmel und Elbe" will einige dieser Widersprüche einfangen.
Bürger steigt dafür in die U-Bahn, die ihn in Schlaufenbewegungen zu seinen Schauplätzen bringt: Elbphilharmonie, Mönckebergstraße, Rödingsmarkt, mit Abstechern nach Altona und Blankenese. Mal lässt Bürger die Orte ihre Geschichte selbst erzählen, mal sucht er die Orte mit einer bestimmten Geschichte im Kopf auf. Trotzdem ist sein Buch keine Sammlung fragmentierter Stadtimpressionen, sondern folgt bestimmten Motiven und Personen.
Bürger ist Literaturwissenschaftler, die Fixsterne seiner Wanderung sind Hans Henny Jahnn, Klopstock, Wolfgang Borchert, Peter Rühmkorf und Hans Erich Nossack. Architektur ist zwangsläufig vertreten, Musik auch – Carl Philipp Emanuel Bach begeistert Matthias Claudius; später wirkt György Ligeti in der Stadt, eine der schönsten Bezüge von Bürger. Hamburgs Rolle in der intellektuellen Konstituierung der Bundesrepublik wird ausführlich gewürdigt.
Als Erzähler verknüpft Bürger diese kulturellen Aspekte und zeitlichen Ebenen mit ihrer geografischen Verortung oft elegant. Zeitlicher Ankerpunkt ist immer wieder der Nationalsozialismus, die der manchmal zum Klischee neigende Bürger "die dunklen Zeiten" nennt, und die großflächige Zerstörung der Stadt durch die britische Luftwaffe.
Besondere Aufmerksamkeit für die jüdische Stadtgeschichte
Vermeintlich antipodisch schenkt Bürger der jüdischen Stadtgeschichte besondere Aufmerksamkeit, von Heine und den Warburgs hin zu der Mäzenin und Frauenrechtlerin Ida Dehmel, die vor ihrer Deportation Selbstmord beging. Sie ist, zusammen mit Marion Gräfin Dönhoff, eine der wenigen Frauenfiguren im Buch.
Gesellschaftliche Außenseiter tauchen bei Bürger oft nur als pittoreske Masse auf der Reeperbahn und in der Davidswache auf, oder werden gar nicht gesehen. Manche von diesen blinden Flecken und Ungenauigkeiten trüben das positive Gesamtbild nur etwas, andere sind schwerwiegender. Hubert Fichte ist hier nur Szenechronist, nicht der vielleicht wichtigste schwule Schriftsteller der BRD. Auch die jüdische Gemeinde zeigt Bürger nur in Beziehung zur nichtjüdischen Umgebung; innerjüdische Spannungen, die das jüdische Leben der Stadt seit dem 17. Jahrhundert bestimmen, erwähnt er nicht.
Migrantische Communities bleiben unbeachtet
Hamburg als Arbeiterstadt (inklusive Sexarbeit) kommt kaum vor. Wie stark migrantische Communities, etwa die türkische, die Kultur und die Lebensart der Stadt prägen, bleibt völlig unerzählt. Bürger selbst schreibt ganz richtig, dass "keine deutsche Stadt mehr vom Zeitalter des Kolonialismus profitierte als Hamburg" - und verschweigt dann, wie die Opfer in Hagenbecks "Völkerschau" begafft wurden.
Ein ungutes Gefühl hinterlässt Bürgers Darstellung der Bombardierung Hamburgs, die er den "ersten Feuersturm der Geschichte" nennt, ohne die deutschen Bombardierungen von Guernica und Stalingrad zu erwähnen. Dagegen hat sich schon W.G. Sebald ausgesprochen, weil sonst die Trauer um die Zerstörung und das zivile Leid moralisch unglaubwürdig wird.
Diesen Schwächen gegenüber stehen die Stärken: die Masse an Quellen und Texten, die Bürger souverän durchmisst, und sein Talent für schillernde Zitate. Trotz gelenkiger Sprünge durch die Jahrhunderte geht die Orientierung nie verloren, fasert seine Erzählung nicht aus. In Lockdown-Zeiten ersetzt Bürgers Buch den beschwingten Stadtspaziergang, und das ist kein geringer Verdienst. Allein: "Zwischen Himmel und Elbe" zeigt letztlich doch nur ein Hamburg für Anfänger.