Jan Koneffke: "Die Tsantsa-Memoiren"

Wie ein Schrumpfkopf die Kolonialgeschichte sieht

09:19 Minuten
Porträt des Autors Jan Koneffke
Der Schriftsteller Jan Koneffke: "Der Schrumpfkopf ist ein Spiegel von uns Europäern." © Galiani Verlag / Isolde Ohlbaum
Jan Koneffke im Gespräch mit Andrea Gerk |
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Der Tsantsa, also der Schrumpfkopf, ist eigentlich eine schreckliche Trophäe aus der Zeit des Kolonialismus. Jan Koneffkes neuer Roman erweckt einen solchen Kopf zum Leben und zum Erzähler einer großen, 200 Jahre umfassenden Geschichte.
Der Kolonialismus führte zu einem schaurigen Trend in Europa: Im 19. Jahrhundert war es der letzte Schrei, Schrumpfköpfe als Souvenir aus den Tropen zuhause zu haben, also echte Menschenköpfe, die zu etwa faustgroßen Trophäen verarbeitet wurden.
Genau um so einen dieser Schrumpfköpfe, die eigentlich Tsantsa heißen, geht es auch in "Die Tsantsa-Memoiren", dem neuen Roman von Jan Koneffke. Dort erwacht ein Tsantsa, der aus einem toten deutschen Conquistador angefertigt wurde, im Jahr 1780 an einer Wand in Caracas und führt daraufhin wie eine Art Reporter durch 200 Jahre Geschichte, die durch ganz Europa führt.
Rein künstlerisch habe ihm Virginia Woolfs "Orlando" als Inspiration gedient, erzählt Koneffke. Aber es gab auch persönliche Beweggründe: Existenzielle Nahtoderfahrungen und chirurgische Eingriffe hätten ihn dazu bewegt, einen Schrumpfkopf als Protagonisten seiner Geschichte zu wählen. "Das Skandalon ist dabei natürlich der fehlende Körper. Gerade dadurch, dass er fehlt, ist er besonders gegenwärtig und wird zum Beleg der existenziellen Hilflosigkeit des Helden."

Die Unterwerfung der Natur

Das Phänomen des Schrumpfkopfs ist vor allem ein europäisches, hält Koneffke fest. Auch aus diesem Grund habe er sich dafür entschieden, seine Geschichte durch die Augen eines deutschen Conquistadors, der einst auf der Suche nach El Dorado nach Südamerika gekommen war, zu erzählen.
Um eine Abrechnung mit dem Kolonialismus sei es ihm dabei nicht vordergründig gegangen, auch wenn man das Buch "als Parabel auf die Europäer selbst" lesen könne, "die durch die Unterwerfung der Natur und der Naturvölker ihre eigene Naturhaftigkeit verlieren." Diese Unterwerfung durchlebe nun auch der Conquistador in Gestalt des Schrumpfkopfs "am eigenen Leib, wenn er denn einen Leib hätte".

Problematische Wörter gehören dazu

In "Die Tsantsa-Memoiren" verwendet Koneffke auch Bezeichnungen, die wegen ihrer rassistischen Konnotationen heute als problematisch angesehen werden. Er tue dies, "weil es einfach zur Darstellung der Geschichte gehört. Wenn wir sie in einem historischen Roman streichen, würden wir unsere Geschichte vergessen, die sich natürlich auch in den Worten spiegelt. Deshalb muss diese Sprache auch rein. Sie muss natürlich gegen den Strich gelesen werden – und das tut man auch, spätestens im vorletzten Kapitel, wenn man zu diesem Auktionshaus in Augsburg kommt, wo der Schrumpfkopf versteigert werden soll."

Denn in dieser Passage kommt es zu einem Eklat, erzählt Koneffke. Nehme man hier nun "die Perspektive des Schrumpfkopf selbst" ein, "also des immer als Objekt behandelten Wesens, dann relativieren sich diese Begriffe natürlich auch".

Ein Buch für mehr Empathie in der Welt

Koneffke hat sein Buch auch als großen Abenteuerroman durch die europäische Geschichte angelegt. Auch wegen der vielen Ortswechsel waren dafür erhebliche Recherchen nötig. Sein Fazit nach dem Ritt durch 200 Jahre Kolonialgeschichte:
"Ich erinnere mich an diesen Satz von Walter Benjamin: 'Was einmal ein Objekt der Kultur war, ist immer auch ein Objekt der Barbarei.' Und wenn wir das bedenken, dann gehen wir vielleicht vorsichtiger, mitleidiger und emphatischer mit der Welt um."

Jan Koneffke: "Die Tsantsa-Memoiren"
Galiani Verlag, Berlin 2020
560 Seiten, 24 Euro

(hte/thg)
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