"Es gibt keine verbindlichen Interpretationen"
Wenn über Literatur richtig diskutiert wird, dann kann das die Perspektiven erweitern, meint Jan Philipp Reemtsma. Die klassische Frage eines Deutschlehrers "Was will uns der Autor sagen" lehnt Reemtsma dagegen ab. Ein Gespräch anlässlich seines neuen Buches "Was heißt: Einen literarischen Text interpretieren?".
Über Textinterpretationen werde schon seit Jahrtausenden geschrieben, sagt Jan Philipp Reemtsma, emeritierter Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg. Platon habe sie erwähnt und Immanuel Kant in seiner "Kritik der Urteilskraft" später auch.
Kant habe "eine gewisse Merkwürdigkeit" bei der Interpretation von Literatur bemerkt: "Es geht einerseits um Geschmacksurteile", werde aber so vorgetragen, "dass sie wie Sätze der Naturwissenschaften daherkommen", also einen Objektivitätsanspruch haben.
"Natürlich steht hinter dem Werk ein Autor"
Der Streit über die Sicht auf einen Text oder über den Inhalt eines Textes hält Reemtsma aber für wertvoll und "einen wesentlichen Teil unserer Kultur":
"Wenn das Reden über Literatur gelingt, glaube ich, ist das so, wie wenn man jemanden in einen Garten oder eine Parkanlage führt und man hat dort einen Punkt ausfindig gemacht, von dem man etwas sieht, von dem man meint, dass die anderen das nicht gesehen haben, weil sie sich da nicht hingestellt haben. Man nimmt also jemanden am Arm und sagt, komm mal her, stell dich mal dahin, wo ich jetzt stehe und sieh dir das mal SO an. Und das kann gelingen, dass der dann in diesem Garten etwas sieht und vielleicht über diesen Garten hinaus über eine Art von Weltbeschaffenheit. Und dann verändert sich der Blick in die Welt und der in die Welt sieht verändert sich auch."
Die typische Frage eines Deutschlehrers im Schulunterricht "Was will uns der Autor mit diesem Text sagen?" hält er für zu kurz gegriffen. "Es gibt zweifellos keine richtigen, das heißt verbindlichen, Interpretationen", sagt Reemtsma.
"Aber natürlich steht hinter dem Werk ein Autor, eine Intention, aber die manifestiert sich nur in dem, was da genau geschrieben steht. Und darüber muss man nachdenken, das muss man reflektieren."
Über Literatur kundig zu reden, würden nur wenige schaffen. Denn das setze ein großes Wissen über Literatur voraus, für das man so viel lesen müsse wie nur wenige Menschen es schaffen könnten.
Reemtsma: "In der Literatur ist Monogamie eine Sünde. Und das kostet Zeit."