Jan Philipp Reemtsma: "Was heißt: einen literarischen Text interpretieren? Voraussetzungen und Implikationen des Redens über Literatur"
C.H. Beck. München 2016
316 Seiten, 24,95 Euro
Die Umkehrung der Blickrichtung
Jan Philipp Reemtsma beschäftigt sich in "Was heißt: einen literarischen Text interpretieren?" mit einer Technik, mit der Deutschlehrer Generationen von Schülern gequält haben. Seine Einsichten sind dabei so überraschend wie anregend: Achtung, das Kunstwerk betrachtet den Betrachter!
Was möchte der Dichter uns damit sagen? Die Deutschlehrerfrage ist zu Recht berüchtigt, weil sie Dichtung in einen prüfbaren Unterrichtsstoff verwandelt. Als ob es möglich wäre, das, was sich über ein Gedicht sagen lässt, als "richtig" oder "falsch" zu bewerten. Andererseits ist das Reden über Literatur keineswegs beliebig. Auch wenn jeder Leser seine eigenen, subjektiven Erfahrungen bei der Lektüre macht, spricht er über sie dann doch mit dem Anspruch auf Allgemeinheit. "Gut" oder "schön" ist eine andere Art der Aussage als "lecker". Worüber reden wir also, wenn wir über Literatur reden? Und vor allem: Wie tun wir das? Das sind Fragen, denen der Hamburger Literaturwissenschaftler und Mäzen Jan Philipp Reemtsma nachgeht.
Als Herausgeber der Werke von Arno Schmidt und Christoph Martin Wieland hat er sich als ebenso leidenschaftlicher wie penibler Leser und Interpret bewiesen. Gleichwohl grenzt sich Reemtsma von der Wissenschaft ebenso ab wie von professioneller Kritik. Die eine ist ihm formelhaft erstarrt, die andere zu locker und unbedarft. Dazwischen aber ist Raum genug, um die Geschichte der literarischen Hermeneutik nachzuzeichnen. Von Platons Dialog "Ion" bis zu Kants "Kritik der Urteilskraft führt der Weg; George Steiner, Emil Staiger, Susan Sontag und viele andere kommen zu Wort, und so gelehrt Reemtsma deren Positionen darzustellen weiß, so überraschend und immer wieder anregend sind die Einsichten, zu denen er dabei gelangt.
Das "Verstehen" eines Gedichtes ist ein Prozess
Die Frage nach dem Interpretieren kann die tiefer liegende nach dem Wesen der Kunst nicht aussparen. Dass das "Verstehen" eines Gedichtes nicht einfach das Feststellen bestimmter Bedeutungen meint, sondern etwas Prozesshaftes, das sich im Gespräch über Kunst ereignet und durchaus Missverständnisse umfassen kann, ist ein Wink in diese Richtung. Das Kunstwerk ist nie bloßer Bedeutungsträger, sondern ein schillerndes, uneindeutiges Objekt.
Und so wie die Urteile vielleicht mehr über den Urteilenden als über das Kunstwerk verraten, kehrt sich – wie in Rilkes großem Gedicht über den "archaischen Torso Apoll" – die Blickrichtung um: Dann betrachtet das Kunstwerk den Betrachter, und "da ist keine Stelle, die dich nicht sieht". Mit dem Text, in den wir eintauchen, werden wir aufgefordert, einen anderen Blick auf uns selbst zu werfen.
Literatur bliebe ohne Geschmacksurteile stumm
Daraus ergibt sich eine Ethik des Interpretierens. Diese besteht vor allem in der Zurückhaltung im Urteil; Reemtsma empfiehlt den Sprech-Modus "Mir ist aufgefallen", und wenn man schon ein öffentliches Geschmacksurteil abgibt, soll man sich doch bitte auch fragen, ob das "Aufmerksamkeitsheischen" wert sei, anderen damit die Zeit zu stehlen. So kommt man womöglich über den "Narzissmus der Objektivität" hinweg – und muss doch nicht aufhören, am öffentlichen, kritischen Gespräch über Literatur teilzunehmen.
Denn klar ist auch, dass Literatur ohne den Resonanzraum der Geschmacksurteile und Leseberichte stumm bliebe und aufhören würde zu existieren. Literatur ist Sprache, und sie ereignet sich in der Sprache. Der Interpret hat die Aufgabe, den Text aus sich heraus zum Sprechen zu bringen. Das – nicht mehr und nicht weniger – heißt, einen literarischen Text interpretieren.