Jan Plamper: Das neue Wir. Warum Migration dazugehört. Eine andere Geschichte der Deutschen
S. Fischer, Frankfurt/Main 2019
400 Seiten, 20 Euro
Utopie einer neuen deutschen Kollektividentität
06:01 Minuten
Die deutsche Geschichte aus dem Blickwinkel der Migration: Dieses Projekt hat sich der Historiker Jan Plamper in "Das neue Wir" vorgenommen. Der Leser findet eine Fülle teils überraschender Fakten, aber auch Einblick in die persönlichen Lebensrealitäten von Migranten.
Eine "andere Geschichte der Deutschen" verspricht Jan Plamper im Untertitel seines Buchs "Das neue Wir". Er erzählt die Geschichte Deutschlands aus dem Blickwinkel der Migration – ein Perspektivwechsel mit politischen Implikationen. Plamper schlägt "Plusdeutsche" vor als Begriff für das Viertel der Deutschen, die mehr sind als nur deutsch, sondern überdies etwa türkisch, arabisch, russisch, jüdisch.
Jan Plamper beginnt seine Migrationsgeschichte lange vor der Zeit, als Deutschland mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum Einwanderungsland wurde. Denn auch und gerade die Deutschen waren jahrhundertelang selbst Migranten: Weit über eine Million Deutsche etwa folgten ab 1763 dem Aufruf von Katharina der Großen ins russische Zarenreich, und sieben Millionen emigrierten bis zum Ersten Weltkrieg in die USA, wo heute jeder Sechste deutsche Vorfahren hat.
Jan Plamper beginnt seine Migrationsgeschichte lange vor der Zeit, als Deutschland mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum Einwanderungsland wurde. Denn auch und gerade die Deutschen waren jahrhundertelang selbst Migranten: Weit über eine Million Deutsche etwa folgten ab 1763 dem Aufruf von Katharina der Großen ins russische Zarenreich, und sieben Millionen emigrierten bis zum Ersten Weltkrieg in die USA, wo heute jeder Sechste deutsche Vorfahren hat.
Wie Plampers Quellen belegen, blieben sich die Vorurteile gegenüber den als fremd empfundenen Flüchtlingen durch die Jahrzehnte hinweg gleich: Nach dem Krieg waren zwölf Millionen Vertriebene und "Displaced Persons" in den beiden Hälften Deutschlands zu versorgen – von "Flüchtlingspack" war die Rede, schmutzig, faul und unehrlich, so wurde ihnen nachgesagt.
Verfahren der "narrativen Geschichtsschreibung"
Differenziert und anschaulich beschreibt Jan Plamper jede einzelne Gruppe von Migranten, die in den nächsten Jahrzehnten nach Deutschland kamen: im Westen Gastarbeiter, vietnamesische Boat People, Dissidenten und Deutschstämmige aus dem Ostblock, in der DDR vor allem Vertragsarbeiter etwa aus Mosambik und Vietnam, im wiedervereinigten Deutschland Spätaussiedler und Juden aus Russland und schließlich die Kriegs- und Armutsflüchtlinge der letzten Jahre.
Jan Plamper zeigt eine komplexe und reiche Geschichte, die in aktuellen politischen Debatten oft zu wenig wahrgenommen wird. Er bedient sich dabei des Verfahrens der "narrativen Geschichtsschreibung": Die Analyse der Hintergründe – etwa der sich ständig wandelnden Asylgesetzgebung – wechselt mit Erzählungen aus dem Alltag der Migration. Immer wieder lässt Plamper Betroffene zu Wort kommen.
Schlaglichtartig versteht man, was es heißen kann, in Deutschland Migrant zu sein: Wir erhalten Einblick etwa in die Lebensrealität eines afghanischen Jugendlichen, dessen Schicksal vom Ergebnis seiner "Anhörung" abhängt, machen die Demütigungserfahrung russischer Juden, deren Hochschul-Abschlüsse nicht anerkannt werden und spüren die Angst ehemaliger Vertragsarbeiter aus Mosambik vor Angriffen von Neonazis. Die Zahlen geben einem beim Lesen ebenso zu denken wie die Geschichten: Nicht weniger als 14 Millionen Gastarbeiter kamen zwischen 1955 und dem Anwerbestopp 1973 nach Westdeutschland, die große Mehrheit von ihnen, elf Millionen, ist in ihr Herkunftsland zurückgekehrt.
Dialektischer Ansatz: Pogrome und Willkommenskultur
Jan Plampers Ansatz ist dialektisch: Er schreibt ebenso über die Pogrome der 90er und die Selbstmorde - 179 Asylbewerber haben sich bis 2014 aus Angst vor der Abschiebung das Leben genommen - wie über das Engagement der Zivilbevölkerung, die sich seit den 1980er Jahren in Initiativen für Migranten einsetzt. Die Willkommenskultur schließlich sei "die breiteste soziale Bewegung der Nachkriegsgeschichte" – nur werde über sie kaum geredet, denn die Rechten hätten die Diskurshoheit an sich gerissen.
Bei aller Deutlichkeit ist Jan Plampers Gegennarrativ bemerkenswert unpolemisch. Dem in London lebenden Historiker gelingt es, die Utopie einer neuen deutschen Kollektividentität zu zeichnen, ohne dabei ins Moralisieren zu verfallen. Er überzeugt gerade dadurch, dass er auf die Kraft der Argumente und Fakten vertraut.