Jan-Werner Müller: "Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit. Wie schafft man Demokratie?"
Übersetzt von Michael Bischoff
Suhrkamp, Berlin 2021
270 Seiten, 24 Euro
In den Strukturen liegt die Hoffnung
06:08 Minuten
Der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller, bekannt durch Studien zum Populismus und zum Liberalismus, fragt in dem Buch "Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit", worauf es für eine Demokratie ankommt - und macht interessante Vorschläge zur Reform.
Die Demokratie befindet sich in der Krise: Das ist eine verbreitete und angesichts der internationalen Erfolge autoritärer Politiker plausible Diagnose. In der letzten Zeit sind zahlreiche politikwissenschaftliche Studien erschienen, die diesen Befund untermauern und nach Auswegen suchen, etwa von David Runciman ("So endet die Demokratie"), Adam Przeworski ("Krisen der Demokratie") oder zuletzt von Armin Schäfer und Michael Zürn ("Die demokratische Regression").
Der in Princeton lehrende Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller reiht sich hier ein – und versucht gleichzeitig, einen Schritt aus der aktuellen Debatte zurückzutreten, wie er gleich zu Beginn seines neuen Buches erklärt. In "Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit" fragt er danach, worin überhaupt das Wesen der Demokratie besteht, oder anders gewendet: Was ist es genau, das wir verteidigen müssen, wenn wir uns gegen die Angriffe des neuen Autoritarismus wehren?
Es geht nicht nur um Wahlen
Eine intakte Demokratie, so Müller, zeichnet sich jedenfalls nicht allein dadurch aus, dass in regelmäßigen Abständen Wahlen abgehalten werden. Die rechtspopulistischen Politiker, die in Polen, Ungarn, der Türkei oder zwischenzeitig in den USA an die Macht kamen, wurden sämtlich rechtmäßig gewählt. Danach haben sie allerdings sofort damit begonnen, die "demokratische Infrastruktur" zu demontieren: etwa, indem sie die freie Presse unter ihren Einfluss zu bringen versuchen, oder indem sie mafiöse Günstlingssysteme etablieren, die bis in das Justizsystem reichen.
Damit wird die Meinungsfreiheit infragegestellt, aber auch die Gleichheit der Menschen: Vor parteiischen Richtern kann man nicht mehr darauf vertrauen, unabhängig von seinen Ansichten, seiner ethnischen Zugehörigkeit oder sexuellen Orientierung behandelt zu werden. Am Ende sollen die demokratischen Garantien nur noch für die Angehörigen jenes "wahren Volkes" gelten, als dessen Vertretung sich die Rechtspopulisten verstehen.
Das Volk hilft auch nicht weiter
Für autoritäre Politiker, so Müller, ist diese Berufung auf das "wahre Volk" wesentlich: Damit spalten sie die Gesellschaft zugunsten ihres Machterhalts; und daraus wollen sie auch die Rechtfertigung ziehen, eine verlorene Wahl nicht mehr anzuerkennen: Denn wenn sie – und nur sie – das "wahre Volk" repräsentieren, ist jede künftige Niederlage bloß ein Zeichen dafür, dass korrupte Gegner den wahren Volkswillen verdrehen ("die gestohlene Wahl" von Donald Trump).
Wer die Demokratie verteidigen will, muss neben den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit also auch jenes der Ungewissheit verteidigen: Im Kern dieses Systems steht die Möglichkeit, dass man Wahlen verlieren kann – und das Versprechen, dass die unterlegenen Kräfte trotzdem die Möglichkeit zur politischen Teilhabe behalten. Das klingt selbstverständlich. Aber auch liberale Politiker, meint Müller, setzen sich nach gewonnenen Wahlen zu oft über die Bedürfnisse und Nöte derjenigen hinweg, die nicht zu ihrer Klientel gehören.
Alles eine Frage der Infrastruktur
Eine lebendige Demokratie ist auf eine lebendige "demokratische Infrastruktur" angewiesen: Wie Müller diese analysiert mitsamt ihrer Beschädigung durch die Rechtspopulisten – das weitet den Blick, ist detailreich und überzeugend. Auch wünscht man der liberalen Öffentlichkeit, dass sie seine Appelle zur Gegenwehr hört. Denn diese versteht die Auseinandersetzung mit den Autoritären immer noch vor allem als Kulturkampf – dabei geht es diesen Politikern, so Müller, gar nicht um Einstellungen oder Ideologien, sondern um die nackte Durchsetzung und Erhaltung von Macht. Sie werden von konservativen Wirtschaftseliten gestützt und profitieren von sozialen Netzwerken, deren Geschäftsmodell dem Autoritarismus opportun ist und deren Einfluss auf die Meinungsbildung sich jeder demokratischen Kontrolle entzieht.
Hier muss liberale Politik ansetzen: etwa, indem sie den Einfluss von Großspendern offenlegt, die Parteienfinanzierung radikal deckelt und die sozialen Netzwerke durch "Plattformräte" (entsprechend den Rundfunkräten) beaufsichtigen lässt.
Nicht auf den Überbau kommt es an, sondern auf die Basis: Ohne dass er es selber beim Namen nennt, ist Müllers Methode doch von erfrischender marxistischer Eindeutigkeit. Dass seine Vorschläge zur Neuerschaffung der Demokratie wenig Aussicht auf Umsetzung haben, weiß er natürlich selbst. Es gibt wenig Gründe für Optimismus, schreibt er in seinem Schlusswort. Aber die Hoffnung lasse er sich nicht nehmen.