Jan Zielonka: "Konterrevolution: Der Rückzug des liberalen Europa"
Campus Verlag, Frankfurt/Main 2019
206 Seiten, 19,95 Euro
Warum sich das liberale Europa ändern muss
07:22 Minuten
Die rechte Gegenrevolution gegen das liberal geeinte Europa ist in vollem Gange. Der liberale Intellektuelle Jan Zielonka sucht nach den Ursachen – und findet sie bei seinen eigenen Leuten. Eine radikale Selbstkritik.
Wem das Glück in den Schoß fällt wie ein Lottogewinn, dem bürdet es zugleich die Verantwortung auf, es klug anzulegen und, wo nötig, zu verteidigen. Jan Zielonka, als polnischer Politikwissenschaftler mit niederländischem Pass, Wohnsitz in Italien und einer Professur in Oxford ein geradezu idealtypischer Europäer - Jan Zielonka lässt kaum einen Zweifel daran, wie er den Umgang seiner europäischen Mitbürger und ihrer Vertreter mit der geschenkten Revolution von 1989 einschätzt:
"Ich bin enttäuscht, wenn nicht gar wütend, dass die Post-1989-Generation von Politikern und Intellektuellen in Europa liberale Ideale gefährdet oder verraten hat. Die Konterrevolution wird sich nicht damit begnügen, Fehler der Liberalen zu korrigieren, sondern darüber hinaus viele Institutionen zerstören, ohne die eine Demokratie nicht existieren kann."
Neoliberalismus ist kein Liberalismus
Lieber Ralf, schreibt Zielonka also - gemeint ist der Soziologe Ralf Dahrendorf, gestorben 2009, Vordenker und kritischer Begleiter einer liberalen Politik in Europa, Lehrer in Oxford und dort Mentor des jungen Polen. Lieber Ralf, denn Zielonka schickt sich an, Dahrendorfs 1990 ebenfalls in Briefform erschienene "Betrachtungen über die Revolution in Europa" eine Generation später aufzunehmen und im Angesicht akuter Gefahr neu zu bilanzieren. Dass sein Buch nun den Titel "Konterrevolution" trägt, könnte in die Irre führen; denn es geht nicht um die anderen, es geht um die eigenen Leute. Der Untertitel sagt es deutlich: "Der Rückzug des liberalen Europa". Lieber Ralf, also:
"Zu viele dubiose Politiker haben sich dem liberalen Projekt angeschlossen, dessen Ideale pervertiert und seinem Ansehen geschadet. Die als liberal verbrämte Herrschaft hat viele Bürger in Armut und Unsicherheit gestürzt."
Sind es also die Liberalen selbst, denen die Schuld am Aufkommen einer neoliberalen, also in ihrem Wesen rücksichtslosen, egozentrischen und nur an der Gegenwart orientierten Politik anzulasten ist? Zielonka wirft seinen eigenen Leuten vor, zumindest die Zeichen der Zeit nicht erkannt, womöglich gar, sie wohlwollend ignoriert zu haben. Denn die Konterrevolution ist längst eine Tatsache, wenn sie auch erstaunlich spät als solche erkannt wurde. Populisten wie Marine Le Pen und Alexis Tsipras, Nigel Farage, Viktor Orban, Matteo Salvini oder Jörg Meuthen und Alice Weidel, nicht zu vergessen Zielonkas polnischer Landsmann Jarosław Kaczyński - sie alle, so schreibt der Nachfolger dem Vorgänger hinterher, sie alle seien um Himmels Willen nicht mehr als Phänomene ihrer jeweiligen Staaten zu betrachten. Sondern als Akteure eines neuen, bald vielleicht konzertiert geführten Angriffs auf das System Europa. Ach ja: Österreich gehört natürlich auch dazu.
Neuer Schwung für das liberale Europa
"Man sollte sich auch fragen: Wie konnte Norbert Hofer, ein Politiker mit rechtsextremem Hintergrund, dem Präsidentenamt in einem der reichsten und stabilsten Länder Europas so nahekommen? Die konterrevolutionären Kräfte sind weit davon entfernt, den gesamten Kontinent zu erobern, aber sie sind imstande, den öffentlichen Diskurs zu prägen und die etablierten Parteien in einen hektischen Rückzug zu drängen. Der Grund ist nicht etwa, dass die Rebellen ein inspirierendes Programm und charismatische Führungspersönlichkeiten hätten, sondern hauptsächlich, dass die Liberalen sich so schlecht schlagen."
So viel Selbstkritik war selten. Aber vielleicht bringt sich gerade damit einer in Position als Nachfolger großer Vorgänger. Ralf Dahrendorf als Adressat dieser Neubewertung liberaler Strategien - das setzt den Maßstab. Zielonka zitiert zudem den 1994 gestorbenen Philosophen Karl Popper und, wo dessen Analysen von der Wirklichkeit eingeholt wurden, seinen eigenen Landsmann, den Polen Zygmunt Bauman, der ebenfalls in England lehrte; er starb dort vor zwei Jahren. Höchste Zeit also, dem Projekt Liberalismus neuen Anstoß und neuen Schwung zu geben - und Zielonkas Antwort auf die Konterrevolution, die er als national-fixiert, reaktionär, populistisch, auf jeden Fall als starrsinnigen Versuch beurteilt, überkommene Strukturen am Leben zu erhalten - Zielonkas Antwort darauf ist ihrerseits revolutionär: Weg mit den Grenzen! Und her mit neuen Formen und Einheiten von Gemeinschaft.
"Daher glaube ich, Nationalstaaten sollten nicht länger die Regeln der europäischen Politik diktieren. Städte, Regionen und transnationale Organisationen sollten einen unmittelbaren Zugang zu europäischen Entscheidungsprozessen und Ressourcen erhalten."
Vielfalt statt Konsens um jeden Preis
Ein Festival liberaler Ideen ist es, wozu der Politikwissenschaftler anregen will. Seine eigene bietet er dabei als Leit-Idee an: Seid anders. Pflegt Unterschiede, anstatt Konsens um jeden Preis zu suchen. Das Repräsentationssystem des Europäischen Parlaments ist, Zitat, "undurchsichtig und vermutlich irreparabel". Stattdessen: Entdeckt in der Vielfalt an Positionen und Interessen eine Quelle neuer Energie. Formuliert nicht nur liberale Programme, sondern probiert sie aus. Und nutzt die Möglichkeiten des technischen Fortschritts.
"Die digitale Revolution hat zu erheblichen Veränderungen in den Bereichen Produktion, Kommunikation und Sicherheit geführt. Akteure wie Megastädte weisen in diesem neuen digitalen Umfeld viel bessere Leistungen auf als Staaten, generieren Innovation und Wachstum, experimentieren aber auch mit neuen Formen lokaler Demokratie. Diese neue Pluralität sollte sich in der Governance widerspiegeln."
30 Jahre sind vergangen, seit der eiserne Vorhang sich öffnete, die Mauer fiel und die Ordnung der Welt neu definiert wurde. 29 Jahre, seit Ralf Dahrendorf seine "Betrachtungen über die Revolution in Europa" veröffentlichte. Jetzt, im Angesicht der längst nicht mehr nur drohenden Konterrevolution, fordert Jan Zielonka, die Chance von 1989 endlich zu nutzen.