Jane Bennett: "Lebhafte Materie. Eine politische Ökologie der Dinge"

Alles lebt

06:23 Minuten
Cover des Buches von Jane Bennett mit dem Titel: "Lebhafte Materie. Eine politische Ökologie der Dinge".
Jane Bennett entwirft eine Theorie, die weit über den Umweltschutzgedanken hinausgeht - wir werden noch mehr davon hören. © Matthes & Seitz / Deutschlandradio
Von Andrea Roedig |
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Kann man sagen, dass ein Virus "handelt"? Jane Bennett plädiert dafür, dass wir über alle Dinge und Lebewesen so reden wie über Menschen. Denn: Wir werden uns nur dann ökologisch verhalten, wenn wir zuvor unser Weltbild von grundauf erneuern.
Obwohl "Lebhafte Materie" im englischen Original schon vor zehn Jahren erschienen ist, passt dieses Buch perfekt in das Jahr 2020. Die zentrale These der Autorin lautet: Materie ist aktiv - und sie hat bisweilen sogar politische Handlungsmacht.
Wann sollte diese Aussage plausibler sein als heute, wo ein kleines Virus die ganze Welt in Atem hält? Jane Bennett entwirft ein philosophisches Modell, das es erlaubt, Dinge tatsächlich als aktiv-handelnde Faktoren in der Welt zu begreifen.
Dieser "vitale Materialismus", wie sie ihre Position nennt, beruht auf der Annahme, dass die Unterschiede zwischen der menschlichen, tierischen, pflanzlichen und mineralischen Seinsweise nicht ganz so eindeutig festzulegen sind, wie es die westliche Denktradition üblicherweise nahelegt.

Auch wir sind Materie

Für Bennett ist das kein bloß akademisches Spiel, sondern die Grundlage einer zutiefst politisch-ökologischen Haltung.
Im ersten Teil ihres Buches versucht sie, die "Macht der Dinge" an Beispielen zu belegen. Angeblich leblose Gegenstände bieten Widerstand, oder sie rühren und verführen uns, sie können in Gerichtsprozessen als Zeugen dienen.
Angeblich von uns getrennte Stoffe, wie Nahrung, beeinflussen die Stimmung. Nicht zuletzt sind wir Menschen ja selbst essbare Materie.
Wir werden uns nicht ökologisch verhalten, wenn wir nicht zuvor ökologisch denken, meint Bennett. Und hierzu brauchen wir neues Weltbild, das nicht mehr von der Vorherrschaft des Menschen ausgeht, das nicht kategorisch zwischen belebt und unbelebt unterscheidet und das nicht stur mechanistisch von feststehenden Ursache-Wirkungsketten ausgeht.
Am Beispiel eines historischen Stromausfalls 2003 in Nordamerika, bei dem sich nacheinander etliche Netze eigenständig ausschalteten, zeigt Bennett, wie verschiedene Elemente – Technik, physikalische Eigenschaften der Stromleitungen oder die behördlichen Regelungen – als ein "Gefüge" zusammenwirken. Hier nach einzelnen Verursachern und "Schuldigen" zu suchen, mache wenig Sinn.

Radikaler als der Umweltgedanke

Zum Schluss nimmt das Buch noch eine unerwartete Wendung. Die ganze Argumentation scheint ja auf eine grüne, ökologische Politik des Naturschutzes hinauszulaufen - aber Bennett zeigt, dass der Anspruch eines "vitalen Materialismus" wesentlich radikaler ist als der des Umweltgedankens, der die Natur ja immer noch als das schützenswerte "Andere" gegenüber dem Menschen betrachtet. Der "vitale Materialismus" ist eine "post-umweltschützerische" Position.
Jane Bennett beruft sich auf die Tradition von Spinoza, Nietzsche, Thoreau – aber auch auf einen Kreis jüngerer Autorinnen und Autoren, allen voran Gille Deleuze, Felix Guattari und Bruno Latour, die als "posthumanistisch" bezeichnet werden.
"Lebhafte Materie" bietet hierzu einen guten Überblick; trotz der zum Teil abstrakten Begrifflichkeit ist das Buch flüssig zu lesen und klar argumentiert. Es legt eine eigenständige Theorie vor, kann aber auch als Einführung in eine Denkweise dienen, der wir in Zukunft wohl immer öfter begegnen werden.

Jane Bennett: Lebhafte Materie. Eine politische Ökologie der Dinge
Aus dem amerikanischen Englisch von Max Henninger
Matthes & Seitz, Berlin 2020
272 Seiten, 28 Euro

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