Ihr Stimmumfang war sehr groß. Sie konnte tief singen und gleich danach ganz hohe Töne treffen. Manchmal klang es so, als ob sie zwei Töne gleichzeitig singt. Indem sie all das, was ihr gefiel, zu ihrem ganz eigenen Sound zusammenführte, hat sie einen einzigartigen Gesangsstil kreiert.
Janis Joplin
Hat den Blues: Janis Joplin bei einem Auftritt Ende der 1960er-Jahre. © imago / Roba Roba-Archiv
Der "Kozmic Blues" einer Pionierin
Mitten im männlich dominierten Musikgeschäft war Janis Joplin eine Ausnahmesängerin und selbstbewusste Künstlerin. Musikerinnen verschiedener Stilrichtungen dient sie bis heute als Inspiration. Am 19. Januar hätte sie ihren 80. Geburtstag gefeiert.
Geboren wurde Janis Joplin am 19. Januar 1943 in Port Arthur, einer von der Ölindustrie dominierten Kleinstadt in Texas. Aufgewachsen in einer Familie aus der weißen Mittelschicht, deutete lange Zeit nichts darauf hin, dass sie ihre Stimme anders als im Kirchenchor erheben würde.
In ihren letzten Schuljahren wurde sie aber mehr und mehr zur Außenseiterin und Zielscheibe von Hohn und Spott der Angepassten. Die Lektüre von Jack Kerouacs Beatnik-Roman "On the Road" und die Entdeckung des schwarzen Blues wurden Ende der 50er-Jahre zu prägenden Initiationserlebnissen. Schließlich fand sie in ihrer Stimme das Mittel zum Ausdruck ihrer Gefühle und zur Selbstermächtigung - zwischen Schrei und Hauch.
"Als ob sie zwei Töne gleichzeitig singt"
Holly George-Warren, Chronistin der US-amerikanischen Musikgeschichte und Autorin der 2019 auch auf Deutsch veröffentlichten Biografie "Janis Joplin – Nothing Left To Lose", sagt über Joplins Stimme:
Michelle David, Soulsängerin aus New York erklärt, dass Joplin ihrer Zeit voraus war.
Ich habe das Gefühl, ihr war es egal, ob die Leute damit einverstanden waren. Das gefällt mir sehr gut: 'Ich muss etwas tun, also mache ich es. Punkt.' Sie ist so etwas wie der Inbegriff einer Person, die ihren eigenen Weg geht, auch wenn sie dabei ihrer Gesundheit schadet.
Gesangsunterricht als kleines Kind
Der Tonumfang ihrer Stimme soll etwas mehr als drei Oktaven umfassen, vom kleinen e bis zum dreigestrichenen g. Dass sie als kleines Kind schon Gesangsunterricht bekommen hat, hat sie in Interviews gerne verschwiegen: Ihre Mutter wuchs während der großen Wirtschaftskrise in einem anderen Teil von Texas auf und war eine talentierte Sängerin, wollte aber nicht in der Unterhaltungsbranche arbeiten. Aber sie begann, Janis Gesangsunterricht zu geben, als Janis gerade mal drei oder vier Jahre alt war.
Sie brachte ihr das Notenlesen bei und sorgte dafür, dass sie Klavierunterricht bekam. Als sie eine Musik außerhalb der weißen Mittelklassenorm von Port Arthur entdeckte, war sie schockiert und tief berührt. Es handelte sich dabei um Musik, von der sie bis dahin nicht die geringste Ahnung haben konnte: Blues.
White Woman and the Blues
Ihre Begeisterung für den Blues führte die 16-Jährige auch in die Bibliothek ihres Heimatortes. Ihre Recherchen waren so gewissenhaft, dass sie sich noch ein Jahrzehnt später daran erinnert, dort ein Buch von John und Alan Lomax aus den 30er-Jahren über Leadbelly gefunden zu haben, das sie seither nirgendwo anders gesehen hat.
Noch 1968 ist ihrer Stimme die Freude an den Entdeckungen anzumerken: Zuerst Leadbelly, dann gab es sogar eine Frau, die Blues sang – Bessie Smith. Daneben spielten auch die afroamerikanische Sängerin Odetta und eine Reihe weißer Sängerinnen eine wichtige Rolle für Janis Joplin: Jean Ritchie mit ihren Folk-Balladen aus den Appalachen sowie Wanda Jackson und Rose Maddox, deren Stimmen für Country- und Western-Musik manchmal ungewöhnlich rau klangen.
Die erste große Band
1966 kam Janis Joplin nach San Francisco, um im Juni 1966 auf Empfehlung ihres alten Freundes Chet Helms bei der Band "Big Brother and the Holding Company" einzusteigen. Die Sängerin fand in den vier Musikern eine Art neue Familie.
Einem der Gitarristen, Sam Andrew, fiel auf, dass sie gleichzeitig totale Unsicherheit und totale Stärke ausstrahlte. Ihren Gesangsstil musste sie erst an die Wildheit und Lautstärke der Band anpassen. Laut Andrew dauerte dieser Prozess etwa ein Jahr.
Frühe Live-Aufnahmen dokumentieren die für die damalige Zeit typische Experimentierlust von "Big Brother". Eine Nummer war deutlich von indischer Musik beeinflusst. Die Band adaptierte "In der Halle des Bergkönigs" aus der Peer-Gynt-Suite des norwegischen Komponisten Edvard Grieg. Sogar eine kurze Free-Jazz-Miniatur gab es.
Der größte Teil des "Big Brother"-Repertoires wurzelte im Blues, aber schnellere Tempi und psychedelische Exkursionen auf der Gitarre ließen etwas Neues entstehen. 1967 gab es noch weitere Bands mit hervorragenden Leadsängerinnen: "Jefferson Airplane" mit Grace Slick etwa, oder "Mother Earth" mit Tracy Nelson. Aber keine von ihnen klang wie Janis Joplin, keine hatte ihre emotionale Intensität.
Joplin wird zur Hauptattraktion
Einen großen Einfluss auf den Werdegang von "Big Brother and the Holding Company" hatten die zwei Auftritte beim "Monterey Pop"-Festival im Juni 1967. Bei einem waren D.A. Pennebaker und sein Filmteam mit der Kamera dabei. Als die Musiker später die fertig geschnittene Version von "Ball and Chain" sahen, dämmerte ihnen, dass ihre Sängerin zur Hauptattraktion geworden war. Sie selber waren kaum im Bild zu sehen.
Das zweite Album von "Big Brother and the Holding Company" heißt "Cheap Thrills" und brachte der Band eine goldene Schallplatte. Fast zeitgleich mit der Veröffentlichung im August 1968 teilte Janis Joplin den Musikern ihren Entschluss mit, sich von der Band zu trennen.
Die Entscheidung fiel ihr sehr schwer, da sie die Bandmitglieder trotz aller Animositäten als ihre Freunde und Wahlfamilie empfand. Sie war sich auch des Risikos bewusst, wollte sich aber trotzdem mit einer anderen Band musikalisch weiterentwickeln. Ihr schwebte eine Band mit mehreren Bläsern vor, wie eine Mischung aus Rhythm'n'Blues- oder Soul-Bands und Rock-Jazzgruppen wie "Blood, Sweat & Tears" oder "Chicago".
Einen der Gitarristen von "Big Brother", Sam Andrew, nahm sie mit in die neue Band.
Neustart und Höhenflug in Europa
Von Fans und Musikjournalisten war oft zu hören, die Sängerin hätte sich nie von "Big Brother" trennen sollen. Es zeigte sich, dass Janis Joplin zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Lage war, als musikalische Leiterin der neuen Band zu fungieren. Sie bestand aus angeheuerten Musikprofis, es kam fast nie ein Gefühl von familiärem Zusammenhalt wie bei "Big Brother" auf.
Eine Europatournee im April 1969 wurde aber trotzdem zu einem musikalischen Höhenflug. Das Publikum war unbelastet von den Ressentiments wegen der Trennung von "Big Brother" und der musikalischen Kursänderung.
Die Diva und die Drogen
Laut Holly George-Warrens Buch begann Joplins Heroin-Konsum 1967. Im März 1969 spritzte sich Janis Joplin versehentlich eine Überdosis, die sie nur dank stundenlanger Bemühungen ihrer Freundin Linda Gravenites überlebte. Roadmanager John Cooke beschrieb die tägliche Routine der Sängerin: Alkohol vor den Shows, auf der Bühne, und danach, allein in ihrem Zimmer, Heroin.
Gleichzeitig bemerkte Cooke, dass die Sängerin auch jenseits der Bühne Star-Allüren entwickelte. Sie wollte besondere Aufmerksamkeit und Behandlung, wies Leute, von denen sie nicht behelligt werden wollte, grob ab, sogar sanfte Seelen, die ihr nur sagen wollten, wie sehr sie sie bewunderten.
Als Motiv für dieses Diva-Verhalten vermutete Cooke das Bedürfnis, als wertvoller Mensch anerkannt zu werden – und zwar in einer Zeit, in der sie sich selbst nicht wertschätzen konnte.
Das letzte Jahr
Am 19. Dezember 1969 trat Janis Joplin das letzte Mal mit ihrer Soul-Begleitband auf, die inzwischen Kozmic Blues Band getauft worden war. Obwohl fast alle überlieferten Tondokumente heute das Gegenteil beweisen, wurde die einjährige Zusammenarbeit der Sängerin mit der Band damals überwiegend als künstlerischer Misserfolg gewertet – auch von Janis Joplin selbst.
Die Folgen der Heroinsucht waren Ende 1969 alarmierend. Joplin begann erstmals eine mehrmonatige Phase ohne berufliche Verpflichtungen und zog in ihr neues, einstöckiges Haus in der Nähe von San Francisco.
Danach sollte es weiter gehen: Als Produzent eines neuen Albums konnte im Sommer 1970 Paul Rothchild gewonnen werden. Er besaß die Fähigkeit, mit allen möglichen Musikern gut zu kommunizieren. Auch stimmte die Chemie zwischen ihm und der Sängerin. Die Aufnahmen fanden im September in Los Angeles statt. Sie liefen gut, die Sängerin hatte gelernt, ihre Band musikalisch zu leiten. Trotzdem fing sie wieder an, gelegentlich Heroin zu konsumieren.
Sie starb in den frühen Morgenstunden des 4. Oktober, einem Sonntag. Das am Nachmittag zuvor erworbene Heroin hatte einen ungewöhnlich hohen Reinheitsgrad, von dem sie nichts ahnen konnte.
Das letzte Album - eine Notlösung
Nur zwei Wochen nach ihrem Tod wurden die Arbeiten an Janis Joplins letztem Studioalbum beendet. Dabei waren zum Zeitpunkt ihres Todes erst zwei Songs fertig aufgenommen. Von jedem der anderen sechs Songs gab es nur verschiedene Takes mit Gesangsspuren, die als vorläufige Versionen zur Orientierung gedacht waren. Rothchild musste sich ganz neue Methoden ausdenken, um aus den verschiedenen Gesangsspuren Stück für Stück eine Idealversion zu produzieren.
"Pearl" erschien im Januar 1971. Das Album mit diesen Aufnahmen war erfolgreicher als alle vorangegangenen Veröffentlichungen.
Joplins musikalischer Einfluss auf jüngere Generationen war immer wieder Konjunkturen unterworfen. Wenige Jahre nach ihrem Tod gab die Popmusik den von ihr verkörperten Typus praktisch auf. Joplins Eigenschaften, die sie berühmt machten – ihr Mangel an Zurückhaltung, ihre augenfällige Verletzlichkeit und ihr Schmerz – waren bis vor kurzem ein wesentlicher Grund dafür, dass Frauen es nicht eilig hatten, Janis Joplin für sich zu beanspruchen. Sie schien zu gefährlich.
Heute nennen von Joan Osbourne über Pink und Stevie Nicks bis hin zu Alicia Keys und Kim Gordon von Sonic Youth Musikerinnen ganz unterschiedlicher Stilrichtungen Janis Joplin als Einfluss.
Janis Joplins Diskografie
Zu Lebzeiten:
- Big Brother & the Holding Company feat. Janis Joplin (1967)
- Cheap Thrills (1968)
- I Got Dem Ol' Kozmic Blues Again, Mama! (1969)
Posthum:
- Pearl (1971)
- Live (1972)
- Greatest Hits (1973)
- Janis Joplin live at Woodstock (1993)
- Box of Pearls (1999)
Eine Produktion von Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur 2020, das Skript zur Sendung finden Sie hier. Diese Lange Nacht wurde erstmals am 3. Oktober 2020 ausgestrahlt.