In dieser Folge des Weltzeit-Podcasts hören Sie auch ein Interview mit der Japanologin Anke Scherer von der Ruhr-Universität Bochum. Sie erklärt, warum Pünktlichkeit in Japan eine so große Rolle spielt und wann das entstanden ist.
Bahnfahren in Japan
Japan ist stolz auf seine Schnellzüge: ein Shinkansen im Bahnhof Tokio. © picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka
Warum Pünktlichkeit hier normal ist
24:38 Minuten
Vor 150 Jahren fuhren die ersten Züge durch Japan. Damals noch aus britischer Produktion. Zu den Olympischen Spielen 1964 startete der erste japanische Schnellzug. Nach der Privatisierung sind inzwischen einige Strecken defizitär, andere werden schneller.
Ein Shinkansen fährt in den Bahnhof von Tokio ein. Bevor er weiterfährt, bleibt der Schnellzug genau zwölf Minuten im Gleis stehen. Reinigungskraft Wakana Hamada ist bereits einige Minuten vor der Ankunft aus ihrem Aufenthaltsraum unterhalb der Schienen gekommen. Als die Türen aufgehen, verbeugt sie sich und hält den aussteigenden Fahrgästen eine Plastiktüte für den Müll hin. Um ihre Hüften hängt eine Putztasche, über der Schulter ein Reinigungsbeutel.
Wakana Hamada hat sieben Minuten Zeit für die Reinigung, da muss jeder Handgriff sitzen. Im Waggon werden zuerst die 90 Sitze in Fahrtrichtung gedreht. "Danach desinfiziere ich jeden Tisch, dann kümmere ich mich um den Boden. Am Schluss kontrolliere ich nochmal, ob alles ordentlich ist."
Sie hetzt durch den Waggon, hier und da noch ein Kopflätzchen wechseln, aussteigen und wie am Anfang, vor den neuen Fahrgästen verbeugen.
"Es ist zwar wichtig in der Zeit zu bleiben, denn es ist ein Service, der kundenorientiert ist, aber zugleich ist das natürlich auch das Schwierigste. Ich muss ja fertig werden, damit die nächsten Fahrgäste einsteigen können. Das ist sehr stressig und anstrengend. Aber ich gebe mir Mühe."
Gutes Japanisch auch als Reinigungskraft
Seit dreieinhalb Jahren putzt die 34-jährige Teilzeitkraft japanische Züge. Dafür bekommt sie pro Stunde 1300 Yen, nach derzeitigem Wechselkurs etwa neun Euro. Das Unternehmen Tessei reinigt 170 Züge am Tag, pro Jahr sind das 63 Millionen Sitze, sagt der stellvertretende Geschäftsführer Fumiaki Dobashi. Arbeit gibt es genug, aber es sei schwer, Personal zu finden, weil in Japan der "Putzjob" immer noch einen schlechten Ruf habe.
Erschwert wird die Personalsuche auch durch die demografische Entwicklung. Japan gehört weltweit zu einer der ältesten Gesellschaften, bis 2040 wird jeder dritte Einwohner im Rentenalter sein, schon jetzt fehlen in vielen Branchen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Zuwanderer können die Lücken nicht füllen, weil die Einwanderungspolitik immer noch restriktiv ist und oft die sprachlichen Anforderungen hoch sind.
Auch bei dem Zugreinigungsunternehmen Tessei sind nur zwei Prozent der 800-köpfigen Belegschaft ausländischer Herkunft, eklärt der Geschäftsführer. "Bei uns ist der Kundenkontakt sehr wichtig und dafür braucht man gutes Japanisch. Deswegen ist es schwierig, wenn man kein Japanisch spricht."
Man bemühe sich aber um ausländische Arbeitskräfte, so Dobashi.
Ekiben ist effizienter als Bordrestaurant
Wer jetzt im Zug sitzt, der hat meist ein Ekiben dabei. „Eki“ bedeutet Bahnhof und „Ben“ kommt von Bento, also eine kleine Mahlzeit zum Essen. In dem Ekibengeschäft am Bahnhof in Tokio ist eigentlich den ganzen Tag Hochbetrieb. Reisende drängen sich um die Kühltruhen und die aufgetürmten, hübsch verpackten Boxen.
"Ein Ekiben gehört immer zur Bahn dazu", meint Nobuhiro Matsuhashi vom Zentralverband der Ekibengeschäfte. "Es ist eine Kleinigkeit, die man mitnimmt. Das ist sozusagen ein Stück Alltagskultur, wenn man verreist. Es ist meist ein traditionelles Gericht aus der Region. Die Ekibens sind regional sehr unterschiedlich."
Das erste Ekiben soll es zum Ende des 19. Jahrhunderts gegeben haben. Es kostete damals nur fünf Cent und bestand aus zwei Reisdreiecken mit eingelegtem Rettich.
Heute sind die kleinen Gerichte so etwas wie ein Potpourri aus Reis, Fisch oder Fleisch, Gemüse und oft eine optische und geschmackliche Überraschung. Dass man in Japan überhaupt mit der kleinen Futterschachtel reist, hat einen einfachen Grund. Speisewagen sind eine Rarität.
"Das ist sicherlich eine Frage der Effizienz, weil das im Prinzip mehr kostet, weil dadurch ja Sitzplätze wegfallen. Außerdem ist es auch so, dass die Bahnreisen heute viel kürzer sind als früher, weil die Züge so schnell fahren."
Die Coronapandemie hat der Branche schwer zugesetzt. Außerdem nutzen die Menschen viel häufiger als früher das Auto oder das Flugzeug für längere Strecken, und dann kaufen sie natürlich kein Ekiben. Deshalb und ebenfalls wegen der alternden und rückläufigen Einwohnerzahl rechnet Matsuhashi in der Zukunft mit weniger Nachfrage nach den Häppchen.
Die ersten Lokomotiven kamen aus Großbritannien
Die japanische Bahn hat eine lange Tradition, die Schnellzüge sind noch immer der Stolz der Nation. Die ersten Waggons, Lokomotiven und Bahnschwellen waren 1872 zur Eröffnung der ersten Bahnstrecke zwar aus Großbritannien importiert, aber weniger als 100 Jahre später ging der erste Schnellzug mit eigener Trasse an den Start.
Pünktlich zu den Olympischen Spielen 1964 fuhr der Shinkansen los: Der Präsident der damaligen Staatsbahn eröffnete die Strecke von Tokio nach Osaka – 515 Kilometer in vier Stunden.
Kazutaro Oishi war der erste Fahrer des Shinkansen, der damals 210 Kilometer pro Stunde erreichte.
"Die Medien hatten immer groß berichtet vom 'Traum-Superexpresszug'. Ich fuhr den allerersten und wusste genau, dass die Fahrgäste bei der Ankunft in Tokio interviewt werden würden. Ich wollte sie also keinesfalls enttäuschen und musste zumindest einmal ordentlich Gas geben."
Der Shinkansen stand stellvertretend für den rasanten, wirtschaftlichen Aufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg. Strecken wurden ausgebaut, 1987 die hochverschuldete Staatsbahn privatisiert, daraus entstanden sechs JR Firmen, JR das steht für Japan Railways, also japanische Bahnen. Hinzu kommen rund 50 weitere Privatanbieter. Obwohl alle privat sind, spricht man in Japan immer von JR und anderen privaten Bahnlinien. Trotz aller Herausforderungen ist die Bahn Japans wichtigstes Verkehrsmittel. Pro Monat werden rund 1,5 Milliarden Menschen befördert.
Lokführer sollen sekundengenau fahren
Sauber, schnell, mit leckeren Häppchen und mit am wichtigsten: Die japanischen Züge sind im Fernverkehr – auch wegen der eigenen Trassen – fast nie zu spät. Normal sei das, so Kiyohito Utsunomiya, Wirtschaftsprofessor an der Universität Kansai im Interview mit der ARD:
"Es ist doch eine Selbstverständlichkeit, dass die Bahn pünktlich ist. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten professionell, deshalb ist sie auch so pünktlich. Selbst wenn der Zug nur eine Minute verspätet ist, dann entschuldigt man sich dafür, das ist normal hier."
Das bestätigt auch Makoto Maekawa von der Gewerkschaft West Japan Railway: "In Japan werden die Lokführer darauf trainiert, die Züge auf die Minute oder Sekunde genau zu steuern. Das ist auch im Laufe ihrer Dienstjahre für sie selbstverständlich. Sie versuchen pünktlich zu fahren und diese Erwartungen zu erfüllen."
Im Frühjahr gewann ein Lokführer zwar gegen einen Bahnanbieter, weil der ihm dem Lohn um 40 Cent wegen einer Verspätung gekürzt hatte. Schadenersatz erhielt er jedoch nicht.
Unglück durch hohen Zeitdruck
Ein unglaublicher Druck, der auf den Mitarbeitenden lastet, denn schon für das kleinste Fehlverhalten heißt es: Nachsitzen, Entschuldigungsbriefe schreiben. Das habe auch mit der Sicherheit zu tun, sagt der Gewerkschaftsvertreter: "Ist der Zug verspätet, kann es passieren, dass der Fahrer Risiken eingeht, um die Verspätung aufzuholen."
So wie 2005 bei dem Eisenbahnunglück von Amagasaki. Damals hatte der 23-jährige Lokführer eine Verspätung von ein bis zwei Minuten. Er wollte die wieder aufholen, fuhr zu schnell in die Kurve, der Zug entgleiste, mehr als 100 Menschen starben, mehr als 500 wurden verletzt.
Zu oft scheint das zum Glück nicht vorzukommen bzw. geht dann bisher meist glimpflich ab – Verkehrsexperte Kiyohito Utsunomiya von der Kansei Universität: "Ich habe hier die Daten von Deutschland und Japan vorliegen. Wenn man beide Länder miteinander vergleicht, ist die absolute Zahl der Unfälle in Japan zwar ein wenig höher, aber: Japan befördert vier Mal mehr Menschen pro Kilometer und deshalb ist die Unfallbilanz insgesamt niedriger als in Deutschland."
Defizitäre Zuglinien in ländlichen Regionen
Die vielen guten Seiten der japanischen Bahn überdecken ein großes Manko, denn: Das Angebot in dem langgestreckten Land klafft weit auseinander. In Ballungsräumen ist es gut ausgebaut, ländliche Regionen fallen hingegen hinten runter. Die Bahnen sind in privater Hand und müssen Profit abwerfen, und wenn es immer weniger Kunden gibt, werden eben die Fahrtzeiten „angepasst“.
Ein Beispiel aus Fuchu in der Präfektur Hiroshima. Der Ort hat etwa 36.500 Einwohner, Jahr für Jahr werden es weniger. Koji Itazaki leitet in Fuchu eine Oberschule.
"Es leben immer weniger Kinder in dieser bergigen Region. Und sollte JR-West diese Bahnlinie auch noch abschaffen, und die Kinder es dann nicht zur Schule schaffen, können wir dichtmachen."
Schon jetzt besteht der Zug nur noch aus einem Waggon und kommt nur sechs Mal am Tag nach Fuchu. Die Schule hat noch 59 Kinder und die sitzen oft schon um kurz nach sieben an ihrem Ziel, weil es keine andere Bahnverbindung gibt.
Doch die zuständige Bahngesellschaft macht jetzt schon umgerechnet 4,6 Millionen Euro Verlust im Jahr. Kenzo Takeuchi, Wirtschaftsexperte an der Christlichen Frauenuniversität Tokio, fordert deshalb ein Umdenken: "Es ist fast aussichtslos, dass sich solche Bahnlinien und -gesellschaften, in Zukunft besser über Wasser halten können. Deshalb sollte man touristische Attraktionen einer Region besser vermarkten. Nur durch so eine Diversifikationsstrategie können solche Bahnunternehmen überleben."
Verkehrsexperte Utsunomiya von der Universität Kansai spricht bereits von einer Abwärtsspirale, denn durch weniger Service verlieren die Bahnen Fahrgäste. Zwar würden die privaten Bahnen staatlich ein wenig unterstützt, um nicht bankrott zu gehen, aber eine Dauerlösung ist das aus Sicht des Wirtschaftsprofessors nicht.
Der Lokalverkehr sollte nicht in privater Hand sein, meint er. Hier könne man gut von Europa lernen, so Utsunomiya, der auch in Wien und Manchester geforscht hat.
"Die Verantwortung sollte stattdessen bei den Städten und Kommunalverwaltungen liegen und zur Stadtentwicklung gehören. Die Bahn ist Teil der Mobilität und erhöht die Lebensqualität, sie sollte deshalb Allgemeingut sein."
Teuer und wenig Vernetzung der Verkehrsmittel
Zwar gebe es auf verschiedenen Ebenen darüber Gespräche, doch konkret sei nichts und die Enttäuschung darüber ist dem Professor anzumerken. Auch müssten sämtliche Verkehrsmittel besser miteinander vernetzt und aufeinander abgestimmt sein, so wie zum Beispiel in Deutschland.
"Utsunomiya wirbt für ein integriertes System, in dem alle Verkehrsmittel gemeinsam gedacht werden. In Europa existiere das schon längst. In Japan jedoch noch nicht."
Das 9- bzw. 49-Euro-Ticket in Deutschland findet der Wissenschaftler, Zitat: „revolutionär“ und hält das für den richtigen Weg, um Bahnfahren attraktiver zu machen. Denn in Japan ist Bahnfahren teuer. Wer zum Beispiel zwei Stunden mit dem Shinkansen unterwegs ist, zahlt rund 300 Euro für die Hin- und Rückfahrt.
Frühbucherrabatte wie in Deutschland kennt man in Japan nicht. Und auch im Innenstadtverkehr kommt man bei täglicher Nutzung schnell auf mehr als 100 Euro im Monat, weil man während einer Fahrt oft mehrere Linien nutzt und immer wieder zahlen muss.
Neue Magnetschwebebahn Maglev mit Problemen
Doch anstatt sich um die Bevölkerung auf dem Land zu kümmern, arbeiten die privaten Bahnen daran, die wichtigsten Ballungsräume Tokio und Osaka noch schneller miteinander zu verbinden und zwar mit der Magnetschwebebahn Maglev. Der neue Maglev soll 600 Kilometer pro Stunde zurücklegen können.
Allerdings gibt es bisher wegen diverser Probleme und erheblichem Widerstand keinen konkreten Starttermin. Ein großes Problem sind die komplizierten Baumaßnahmen, denn anders als andere Züge kann der Maglev nur auf gerader Strecke fahren.
Im Herzen von Tokio wird 40 Meter in die Tiefe und nach Westen gebohrt. 2024 soll der Tunnel Denenchofu, eins der wohlhabenden Viertel Tokios, erreicht haben. Kazuhiko Miki wohnt dort und klagt mit 24 Anwohnern gegen den Bahnbetreiber JR Tokai und fordert einen Baustopp: "Durch das Rütteln des Bohrers fürchten wir, dass sich der Boden absenkt und unsere Häuser beschädigt werden. Dazu kommt der Lärm."
Der Rentnerin Mikiko Yamanashi bereitet der Tunnel noch aus einem anderen Grund Sorgen: "Der Wert des Hauses wird sehr stark sinken. Das konnten wir schon dort sehen, wo ein Teil eines Tunnels eingestürzt ist. Dort will keiner mehr ein Haus kaufen."
Gemeint ist eine Gemeinde rund 20 Kilometer westlich von Tokio. Durch den Tunnelbau sackte eine Straße ab, ein riesiges Loch entstand, die Bauarbeiten mussten eingestellt werden. Weitere Klagen sind anhängig, obwohl eine Magnetschwebebahn viele Vorteile hat. Sie ist sicher, schnell, leise und kostengünstiger in Betrieb und Wartung.
Inwieweit die Proteste den Ausbau verzögern, muss man abwarten. Derweil arbeiten Japans Ingenieure weiter am Shinkansen Alfa X – eine neue Version der konventionellen Züge. Der ab 2031 eingesetzt werden und 360 Kilometer pro Stunde fahren wird. Es gab bereits mehrere Testfahrten.
Bahnfan eröffnet Museum in Tokio
Weniger an Test-, sondern mehr an Traumfahrten mit dem Shinkansen nimmt Tetsuya Suzuki teil, und das schon seitdem er sechs Jahre alt ist und einen gedruckten Fahrplan auf dem Schreibtisch seines Vaters gesehen hat.
Und dann war es um den kleinen Tetsuya geschehen. Von da an sammelte er Fahrplanbücher. Inzwischen hat der 54-Jährige mehr als 800 Bücher und sogar ein eigenes kleines Museum in Tokio eingerichtet.
Sein ganzes Taschengeld investierte er jahrelang nur in Fahrpläne. Insgesamt habe er bis zu sechs Millionen Yen für sein Hobby ausgegeben, schätzt Tetsuya Suzuki.
Allerdings sind seine Fahrpläne auch im Wert gestiegen. Er zeigt ein Exemplar von 1964, als der Shinkansen erstmals in Betrieb ging. Der Fahrplan kostete damals 150 Yen, jetzt sei er 10.000 Yen wert.
Noch heute setzt er sich oft hin und blättert sich durch die Fahrplanbücher: "Das beruhigt mich, es ist wie eine Heilung. Wenn ich darin lese, kann ich in meiner Vorstellung herumreisen."