Wie gehen die USA, Schweden, Russland oder Taiwan mit dem Coronavirus um? Im Podcast der Weltzeit informieren wir Sie über alle Entwicklungen weltweit.
Wie ein sinkendes Schiff
28:22 Minuten
In vielen Ländern nehmen die Neuinfektionen ab, in Japan steigen sie. Manche rechnen sogar mit 400.000 Coronatoten. Regierungschef Abe postet derweil Heimvideos vom Teetrinken. Die Bevölkerung versteht immer weniger, wohin er das Land steuert.
Eine schöne Kreuzfahrt ist es, quer durch Südostasien. Interessante Ausflüge, andere Kulturen, feines Essen und nette Menschen – dazu die gute Seeluft. Das Coronavirus scheint weit weg auf dem Kreuzfahrtschiff Diamond Princess, als es Anfang Februar im Hafen von Yokohama bei Tokio festmacht.
Doch statt von Bord gehen die 2600 Passagiere in Quarantäne – und zwar auf dem Schiff. Das entscheidet das japanische Gesundheitsministerium, nachdem bei einem chinesischen Passagier, der kurzfristig auf dem Schiff gewesen war, nachträglich das Coronavirus festgestellt wurde.
Von außen erweckt es zunächst den Anschein, alles sei alles unter Kontrolle. Nach zwei Wochen Quarantäne gibt das Gesundheitsministerium für 500 Menschen, darunter viele Japaner, grünes Licht. Sie können das Schiff verlassen und dürfen sich frei bewegen. Es ist Mitte Februar.
Bürokraten statt Ärzte treffen die Entscheidungen
Dann stellt der erfahrene Seuchenexperte Kentaro Iwata ein Video ins Netz. Er war einige Tage zuvor auf dem Schiff gewesen und erhebt schwere Vorwürfe. „Die Infektionskontrollen auf dem Kreuzfahrtschiff waren völlig unzureichend. Es wurde überhaupt nicht unterschieden zwischen der virusfreien und der Zone, in der man sich potenziell anstecken kann.“
Er ist fassungslos über den laxen und unzureichenden Umgang Japans mit der Lungenkrankheit. Die Situation an Bord beschreibt er als chaotisch.
„Kein Arzt war zuständig, um die Ausbreitung des Virus' einzudämmen. Alles lag in den Händen von Bürokraten.“
Iwata hält es für fahrlässig, Passagiere ohne weitere Selbstisolierung zu entlassen. Und er sollte recht behalten. In den folgenden Tagen erkranken viele als gesund entlassene Passagiere. Am Schluss liegt die Zahl bei etwa 700 Menschen.
Kritik prallt an der Regierung ab
Doch jegliche Kritik prallt an der Regierung ab. Man habe genau richtig gehandelt, wiederholt Regierungssprecher Suga mehrmals hintereinander. Bis Ende Februar plätschert das Leben in Japan so vor sich hin. Jegliche Zweifel, das Olympia ausfallen könnte, werden sofort vom Tisch gewischt.
In anderen Teilen der Welt – unter anderem im Nachbarland Südkorea – schnellen derweil die Coronainfektionen in die Höhe. Japan bleibt von all dem ungerührt, nach dem Motto: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, wird nicht getestet und wer Fieber hat, erstmal wieder nach Hause geschickt.
Dann – am letzten Donnerstag im Februar – verkündet der rechtskonservative Regierungschef Abe plötzlich: „Ich fordere alle Grund-, Mittel-, Ober- und Sonderschulen auf, von Montag bis zu den Frühlingsferien zu schließen.“ Das ist bis Ende März.
Japans Eltern sind wie vor den Kopf gestoßen. So wie diese Mutter: „In meinem Unternehmen versuchen alle, sich gegenseitig zu helfen. Aber natürlich geht das auf Kosten mancher Leute. Ich werde weniger arbeiten können. Ich fühle mich richtig schlecht.“
Mütter oder Väter, die jetzt zu Hause bleiben müssen, sollen vom Staat pro Tag mit rund 80 Euro entschädigt werden. Aber das ist für viele Familien natürlich viel zu wenig. Wo es geht, müssen deshalb Großeltern ran. Diese Oma ist alles andere als begeistert: „Ich habe Enkelkinder in der Grundschule, im Kindergarten und in der Krippe. Die muss ich jetzt jeden Tag sitten. Das ist ein Haufen Arbeit.“
Unseriöse Infektionszahlen
Doch selbst mit geschlossenen Schulen glauben immer weniger Regierungen daran, dass Japan das Virus im Griff hat. Das deutsche Außenministerium spricht in einem Schreiben an in Japan lebende Deutsche gar von unseriösen Infektionszahlen. Am 24. März ist der internationale Druck so groß, dass das IOC und Japan nur noch eines können: Die Olympischen Spiele zu verschieben.
Kaum ist der Aufschub um ein Jahr nach hinten erklärt, gehen die Infektionszahlen auch schon nach oben, vor allem in Großstädten wie Tokio und Osaka im Westen des Landes.
Der Präsident des japanischen Ärzteverbandes Yoshitake Yokokura und der Immunologe Shigeru Omi warnen. „Aus unserer Sicht befindet sich Japan bereits in einer medizinischen Krisensituation.“ – „Die Zahl der Infizierten, vor allem in Großstädten, steigt jetzt schnell an. Aber lange vor einem explosionsartigen Anstieg wird es zum medizinischen Kollaps kommen.“
Omi hat langjährige Erfahrung, unter anderem in der Weltgesundheitsorganisation, und gehört zudem einem Gremium an, dass die Regierung im Umgang mit Corona berät. Ein Gremium allerdings, dass viel zu lange nur auf die Cluster setzte und glaubte, selbst von diesen würde nur ein geringer Teil das Virus weitergeben. Schon längst hat Japan da den Anschluss verloren, Infektionsketten nachzuverfolgen. Immer lauter werden jetzt die Rufe, Regierungschef Abe solle endlich den Notstand ausrufen, zu dem er bereits vor Wochen vom Parlament ermächtigt wurde. Dabei wäre schon jetzt eine Erhöhung der Intensivbetten dringend notwendig. Allein Tokio verfügt nur über 500, im ganzen Land kommen nur fünf auf 100.000 Einwohner.
Zwei Masken für fünf Personen
Doch der rechtskonservative Politiker zögert und erklärt stattdessen, jeder Haushalt bekomme in den nächsten Wochen zwei Stoffmasken geschenkt. Weil Abe das ausgerechnet am 1. April erklärt, glauben viele an einen Scherz. Im Internet brechen sich Hohn und Spott Bahn.
Eine junge Japanern postet auf Twitter ein Tanzvideo, in dem sie zwei Masken hin- und herschleudert. Diese beiden sagen im japanischen Fernsehen: „Wir sind zu fünft in meiner Familie. Zwei Masken reichen da nicht aus.“ – „Ich erwarte nichts mehr von der Regierung. Die Sache mit der Maske macht mich so wütend.“ Was für eine Geldverschwendung, das ist der Tenor.
Nachdem eine Woche immer wieder vom Ausnahmezustand die Rede ist und der Regierungschef in unzähligen abendlichen Pressekonferenzen nichts Neues von sich gibt, ist es am 7. April endlich soweit. „Die schnelle Ausbreitung des Coronavirus wird große Auswirkungen auf das Leben der Menschen und die Wirtschaft haben. Basierend auf dem Sondergesetz Artikel 31, Paragraf 1, erkläre ich hiermit den Ausnahmezustand.“ Das Ganze gilt zunächst für sieben Regionen. Sein Appell: Die Menschen sollen sämtliche Kontakte um bis zu 80 Prozent reduzieren.
Die Regierung will Führungsstärke zeigen, aber für viele Japaner und Japanerinnen hinkt das Land hinterher. „Ich denke, es kommt ein bisschen spät. Andere Länder haben schneller reagiert als die Zahlen angestiegen sind", sagt die 22-jährige Angestellte Yukari Shishida einem Reporter der Nachrichtenagentur Reuters. Und der Student Hirai Ohban pflichtet ihr bei: „Japan sollte wie andere Länder strengere Auflagen machen. Vielleicht ist es etwas zu streng, Menschen dafür zu bestrafen, wenn sie rausgehen, aber ich denke, das ist eine Möglichkeit.“
Die Leute wissen nicht, dass sie Abstand halten müssen
Denn trotz Notstand verhalten sich die Bürger zunächst wie ihre Regierung in den vergangenen Wochen: Sie machen weiter wie bisher, fahren mit der Bahn zur Arbeit, picknicken im Park, sitzen sogar noch dicht an dicht im Restaurant. In manchen Stadteilen gibt es jeden Morgen jetzt eine Durchsage, man soll zu Hause bleiben. Der Sänger Pikotaro textet seinen größten Hit um und im Fernsehen wird ständig vor den San "Mitsu" – zu Deutsch "den drei Engen" – gewarnt: geschlossene Räume, überfüllte Plätze und zu dichte Gespräche.
Doch viele Japaner würden denken, es reiche bereits, eine der drei Auflagen einzuhalten, sagt der Politologe Koichi Nakano: „Viele Leute denken also, dass sie durch eine Maske geschützt sind, so lange sie nicht miteinander sprechen. Oder sich die Kirschblüten anzugucken, ginge auch, weil: Das ist ja draußen. So lächerlich das klingt, aber die Leute wissen einfach nicht, dass sie Abstand halten müssen.“
Und nicht nur das: „Social Distancing ist bis heute nicht ins Japanische übersetzt. Kaum einer weiß, was das bedeutet. Und die Regierung hat auch nie von den Leuten verlangt, Abstand zu halten. Erst seit Kurzem redet zumindest die Regierung in Tokio davon.“ In den Supermärkten sieht man jetzt vereinzelt an den Kassen einen Spritzschutz. Doch Abstand halten? Fehlanzeige. Nur langsam stellen Unternehmen auf Homeoffice um. Eine Umfrage des Infrastrukturministeriums zeigte im März, dass mehr als 70 Prozent der Firmen Schwierigkeiten mit Homeoffice haben.
Tod durch Corona oder Selbstmord nach dem Bankrott
Aber das ist es nicht allein, sagt der langjährige Japankenner und Journalist Jake Adelstein: „Abe sagt den Leuten, sie sollen zu Hause bleiben. Aber ihm ist überhaupt nicht klar, dass es Leute gibt, die dann verhungern. Ich glaube, jeder Fünfte der 20- bis 40-Jährigen hat keinerlei finanzielle Rücklagen. Die können nicht einfach zu Hause bleiben.“
So wie Genko. Der buddhistische Mönch hat eine kleine Bar in Tokio und weiß schon jetzt kaum noch, wie er sich über Wasser halten soll. „Ich habe wirklich Angst und würde gern meine Bar schließen. Aber dann verdiene ich gar nichts mehr und die Rechnungen laufen weiter. Ich habe keine andere Wahl, so lange offen zu lassen, bis keine Kunden mehr kommen.“
Zwar hat Tokio kleinen und mittleren Unternehmen bis zu 8400 Euro Hilfe zugesagt, aber wann das Geld kommt, weiß er nicht. Genko hat Angst davor, seine Bar ganz schließen zu müssen: „Wenn wir schließen müssen, sind wir am Ende. Das wäre wie Selbsttötung. Wir müssen uns entscheiden, entweder sterben wir wegen des Coronavirus', oder wir bringen uns nach dem Bankrott um.“
Die US-Investmentbank Goldman Sachs hat für das erste Quartal bereits düstere Aussichten verkündet. Das Bruttoinlandsprodukt könnte um ein Viertel einbrechen, hieß es vor wenigen Tagen. Geschäfte ganz dicht zu machen, davor schreckt die Landesregierung auch deshalb bisher zurück – mit skurrilen Regeln, wie Politologe Nakano bemerkt. „Friseure bleiben offen, Kneipen ebenso, bis abends um acht Uhr und können bis sieben Uhr Alkohol servieren. Das Coronavirus scheint nachtaktiv zu sein.“
Vor allem in Tokio steigen die Infektionen
Derweil steigen die Infektionszahlen vor allem in Tokio weiter an. Bis zum vergangenen Wochenende haben sich offiziell rund 10.000 Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Was sich wenig anhört, ist aus mehreren Gründen besorgniserregend: Erstens: Innerhalb von drei Wochen haben sich die Zahlen vervierfacht. Zweitens: Japan testet immer noch wenig. Nach Recherchen des ARD-Hörfunks sind es nicht mal 8000 Tests pro Tag. Angekündigt waren 20.000.
nd Drittens: In einer Umfrage des Messengerdienstes Line unter 24 Millionen Nutzern gaben etwa 27.000 Menschen an, sie hätten vier Tage hintereinander mehr als 37,5 Grad Fieber gehabt. Hochgerechnet auf die Bevölkerungszahl kommt man auf 135.000 potenzielle Coronapatienten.
Am vergangenen Mittwoch alarmiert die Prognose des japanischen Professors Hiroshi die Öffentlichkeit. Macht Japan nichts, könnte es bis zu 400.000 Tote geben. Andere Experten gehen nicht soweit, doch zeigt sich bereits jetzt in Tokio: Das Gesundheitssystem ist heillos überlastet, viele Krankenhäuser nehmen keine Patienten mehr auf. Personal infiziert sich, weil Schutzkleidung fehlt.
Krankenhäusern geht Schutzkleidung aus
In einem Beitrag des öffentlich-rechtlichen Senders NHK schildert der Arzt eines allgemeinen Krankenhauses die Lage so: „Uns gehen so langsam die Waffen für den Kampf gegen das Virus aus. Kommt es dazu, kann ich den Mitarbeitern doch nicht sagen: Gehen Sie bitte ohne Ausrüstung da rein. Wenn wir den Punkt erreichen, ist das nichts anderes als der Kollaps unseres Gesundheitssystems.“ Und eine Mitarbeitern fügt hinzu: „Letztlich hat doch jeder von uns das ungewisse Gefühl, vielleicht selbst das Virus zu haben. Ist es unter den Umständen wirklich in Ordnung, nach Hause zu fahren und ganz normal mit der Familie zu leben? Durch diese Unsicherheiten sind alle emotional ziemlich erschöpft.“
Obwohl Tokio für Patienten mit milden Symptomen bereits Betten in Hotels angemietet hat, kommt es nicht hinterher. Mehr als 200 positiv auf das Virus getestete Menschen sollen sich zu Hause in Selbstquarantäne begeben. Ob das in den oft beengten Verhältnissen möglich ist und wie das kontrolliert wird, weiß keiner. Anders als die Nachbarländer Taiwan oder Südkorea hat Japan bisher kein Trackingverfahren eingeführt.
Diese Psychiaterin sagt, sie sei kurz vor dem Zusammenbruch und nicht nur sie. „Die Situation ist wie ein Luftballon, der beim geringsten Anstupsen platzen könnte.“
Heimvideo zeigt Premier Abe beim Teetrinken
Am 16. April weitet die Regierung den Ausnahmezustand auf das ganze Land aus. Doch Premier Abe vermittelt in einem Video von sich zu Hause immer noch den Eindruck, als habe er damit nichts zu tun. Der junge Liedermacher Gen Hoshino textet darauf „Lasst uns zu Hause tanzen“. Der Premier sitzt derweil in seinem vornehmen Wohnzimmer, trinkt Tee und spielt mit dem Haustier.
In einem Post auf Twitter heißt es dazu: „Lieber Abe-san, vielen Dank für die Verschwendung von Steuergeldern! Bitte trinke in Ruhe deinen Tee weiter zusammen mit deinem geliebten Hund, während du die Bürger ohne Garantien im Stich lässt.“
Kurz darauf kündigt die Regierung an, sie plane, jedem Bürger, egal, wie reich oder arm er oder sie ist, rund 850 Euro zu schenken. Das wird wohl kaum reichen, schon vor Corona stand die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt vor einer Rezession. Journalist Jake Adelstein zieht einen Vergleich zum Kreuzfahrtschiff Diamond Princess, mit dem in Japan alles begann:
„Der Kapitän schläft oder ist betrunken. Der Steuermann Kako – der Gesundheitsminister – guckt, als wolle er von Bord gehen. Der Crew – den regierenden Liberaldemoraten – ist übel. Und alle Passagiere werden jetzt so richtig krank. Es ist eine Katastrophe. Wir alle in Japan sind auf der Diamond Princess.“