Die Idee für diese Wunsch-Weltzeit 2018 lieferte Milan. Vielen Dank! Weitere Hörervorschläge greifen wir in den nächsten Folgen des Weltzeit-Podcasts auf.
Wie Beethoven alle verbindet
29:46 Minuten
Vor 100 Jahren führten deutsche Kriegsgefangene zum ersten Mal in Japan Beethovens 9. Sinfonie auf. Inzwischen ist sie omnipräsent, gilt als zweite Nationalhymne und wird immer zum Jahreswechsel gespielt. Eine deutsch-japanische Spurensuche.
Eine Bushaltestelle in der japanischen Kleinstadt Naruto. Der Bewegungsmelder hat bemerkt, dass ich aussteige und sofort plärrt aus einem Lautsprecher Beethovens 9. Sinfonie. Aber nicht nur hier ist sie zu hören – auch in der Telefonwarteschleife der Stadtverwaltung von Naruto und sie erklingt jeden Abend um 18 Uhr vor dem Rathaus. Nicht ohne Grund: Naruto rühmt sich damit, "Daikyu no Furusato" zu sein – die Heimat der "Großen Neunten".
Beethovens letzte vollendete Sinfonie, 1824 uraufgeführt, eine Meilenstein der Musikgeschichte – Hymne der EU und in Japan fast etwas Heiliges. Man nennt sie hier auch die zweite Nationalhymne des Landes. "Ode an die Freude", "Fu-Ro-I-De", das kann fast jeder Japaner singen oder sagen.
Traditionell wird sie zum Jahresende von Orchestern in ganz Japan aufgeführt – auf Deutsch. Sie taucht immer dann auf, wenn etwas Erhabenes gespürt werden soll. Das passiert natürlich auch oft in japanischer Fernsehwerbung.
"Es gibt in dem Stück den Moment, wo man sich und seine Präsenz fühlt. Das überkommt alle im Raum, die Sänger, das Orchester, die Zuhörer. Alle verschmelzen zu einem. Und solche Musikstücke gibt es nicht viele. Aber Beethovens Neunte gehört gewiss dazu. Warum man das jetzt aber am Jahresende spielt, das weiß ich auch nicht. Es heißt, man hätte das aus Deutschland übernommen, wo das Stück auch am Jahresende gespielt wird, aber so viel ich weiß, ist das da ja gar nicht so."
Herr Kiyoharu Mori ist Leiter des Deutschen Hauses in Naruto. Dass es hier so eine Institution überhaupt gibt in dieser Kleinstadt, hängt auch mit der Neunten zusammen.
Hier in Naruto war es, wo Beethovens Meisterwerk zum ersten Mal in Asien aufgeführt wurde: Am 1. Juni 1918, als deutsche Kriegsgefangene, die im Lager Bando inhaftiert waren, das Stück für sich und ihre Kameraden spielten. Aus Mangel an Frauen schrieben sie die weiblichen Stimmen um und bedienten sich der wenigen Instrumente, die sie im Lager auftreiben konnten.
Erste Aufführung der 9. Sinfonie in Asien
"10. Juni 1918. Meine Liebe Mutter. Die Regenzeit hat jetzt eingesetzt, sie dauert rund sechs Wochen und zeichnet sich durch schwüles, regnerisches Wetter aus. Vorigen Sonnabend wurde die 9. Symphonie von Beethoven gespielt. Die Aufführung glückte gut. Besonders der 3. Satz hat es mir angetan. Welche Ruhe, welcher Trost strömt von ihm aus. Ist Wilhelm schon in der Schweiz? Mit den herzlichsten Grüßen. Dein Hermann."
Die Postkarte des deutschen Kriegsgefangenen Herrmann Hake an seine Mutter ist wichtig für die kleine Stadt Naruto: Denn hier steht es schwarz auf weiß und mit Datum versehen: Beethovens Neunte. So war es hier im Lager Bando, in Naruto und nicht in Shanghai oder Tokio, dass sie zum ersten Mal in Asien erklang.
Nachdem das klar wurde, gründeten die Bürger einen Verein. Die Mitglieder suchten den Kontakt nach Deutschland, eine Städtepartnerschaft sollte initiiert werden. Die Wahl fiel auf Lüneburg: Die Stadt war von der Größe vergleichbar mit Naruto und hatte auch eine Geschichte im Salzhandel. Seither kommen Sänger aus beiden Ländern regelmäßig zusammen, um das Stück aufzuführen. Gemeinsam stellten sie einen deutschen Glockenturm auf dem Berg hinter dem ehemaligen Gefangenenlager auf. Jeden Tag um zwölf Uhr schallen die Glocken ins Tal und erinnern: "Alle Menschen werden Brüder."
Und dann gibt es noch das mittlerweile legendäre Konzert, das jeden ersten Sonntag im Juni im Deutschen Haus abgehalten wird. Amateursinger aus ganz Japan treten an. Es gibt eine Vorauswahl und dann stehen 600 Sänger und Sängerinnen eng zusammengedrückt auf der viel zu kleinen Bühne, Schulter an Schulter, und schmettern "Freude schöner Götterfunken", auf Deutsch.
"Viele singen nur dieses Lied, sonst nichts"
"Das Stück ist sehr schwer – aber es wird in Japan vornehmlich von Amateuren gesungen. Das ist anders als in Deutschland, wo sich nur Profis an dieses Stück heranwagen. Und um für all diese Amateure einen Rahmen zu bilden, veranstaltet man die Konzerte im Juni in Naruto und hat eine Art Verein gegründet. Es gibt viele, die nur dieses eine Lied singen, sonst nichts."
Herr Koroyasu ist Musik-Professor an der Universität von Naruto und hat schon beim Bayrischen Rundfunkchor gesungen. Er sang auch mit, als Leonard Bernstein Beethovens Neunte in Berlin zum Fall der Mauer aufführte. Damals wurde Freude mit Freiheit ausgetauscht. Es war einer der Schlüsselmomente in Koroyasus Leben.
"Der Originaltext ist auf Deutsch, damit hat Beethoven die Musik gemacht. Text und Musik gehören zusammen. Auf Deutsch zu singen ist daher einfacher, als es ins Japanische zu übersetzen."
Für die japanischen Amateursänger ist die Neunte, die jedes Jahr im Sommer in Naruto aufgeführt wird, vergleichbar mit dem Rennen eines Marathons. Sie proben das ganze Jahr dafür und dann gilt es durchzuhalten, mitzumachen und vor allem: dabei zu sein.
"'Alle Menschen werden Brüder' – so heißt es in der Neunten und wenn die Amateure singen und etwas mit der Tonlage nicht klappt, dann sind immer andere da, die ihnen helfen, sie unterstützen. Und zusammen wird es dann Musik."
Zum 100. Jubiläum der ersten Aufführung der Neunten in Japan, also im Sommer 2018, kam es in Naruto zu einem denkwürdigen Konzert: Wieder wurde sie aufgeführt, diese Mal nur mit Männerstimmen und nur mit den Instrumenten, wie damals, im deutschen Kriegsgefangenenlager. Viele in Naruto bekommen noch immer Gänsehaut, wenn sie nur daran denken.
4000 deutsche Soldaten 1914 in Japan verteilt
Der Postkartenschreiber und Kriegsgefangene Herrmann Hake verbrachte insgesamt sechs Jahre in Bando, Naruto.
Warum die Deutschen überhaupt hierher kamen? Nun ja, der Erste Weltkrieg tobte 1914 nicht nur in Europa, auch in Asien gab es große Kämpfe. Zum Beispiel um den kolonialen Handelsstützpunkt Tsingtao, den das Deutsche Kaiserreich von China gepachtet hatte. Der lag am Meer, hatte eine große strategische Bedeutung und wurde deshalb von der japanischen Armee monatelang belagert. Im November 1914 mussten die Deutschen kapitulieren. 4000 deutsche Soldaten und Reservisten wurden in ganz Japan verteilt.
Herrmann Hake und 1000 andere kamen ins Lager nach Bando.
"Hallo, Herr Matsue, ihr Großvater war damals der Lagerkommandant. Was hat er ihnen denn davon erzählt?"
"Er hat mir nicht viel erzählt, aber meinem Vater. Und der hat gesagt, dass mein Großvater die Deutschen Gefangenen immer respektiert hat. Sie haben für ihr Land gekämpft, daher muss man sie achten. Er hat sich das Versprechen gegeben, dass er sie, wenn die Zeit reif ist, alle wieder sicher nach Hause schicken wird."
"Und hatte er an seinem Lebensende noch immer seinen Bart?"
"Ja, er hat bis zu seinem Lebensende einen wunderbaren Bart getragen."
Bando war ein besonderes Internierungslager in Japan – vor allem wegen Toyohisa Matsue, dem Lagerkommandanten, der einen imposanten wilhelminischen Bart trug. Als im Jahr 2006 ein japanischer Film über das Lager und Beethovens 9. mit dem deutschsprachigen Schauspieler Bruno Ganz gedreht wurde, nannte man den Film "Baruto no Gakuen" – "das bärtige Orchester".
Lagerkommandant Matsue blieb seinem Versprechen treu: Im Dezember 1920, nach sechs Jahren, erreichten die Deutschen wieder ihre Heimat. Dass sich die einjährige Rückreise auch noch um ein ganzes Jahr verzögert hatte lag nicht an den Japanern, Deutschland war pleite und konnte kaum für die Kosten des Dampfers aufkommen.
Während der ganzen Inhaftierung starben nur acht von 1000 Lagerinsassen, die meisten davon an der spanischen Grippe. Einer ertrank, womöglich war es Selbstmord. Matsues Geheimnis für so positive Zahlen: Er verzichtete auf unnötige Appelle und gewährte den Gefangenen eine Art selbstbestimmten Alltag. So lange sie die Regeln befolgten, gestattete er ihnen, die Zeit mit den Dingen zu verbringen, die ihnen sinnvoll erschienen.
Die Deutschen wollten kein warmes Bier
Hinter dem Gefangenenlager ist einer der ältesten Schreine Japans und dahinter ein ursprünglicher Wald. Die Insassen liebten es, sich dort aufzuhalten, auch heute noch gelten die Deutschen und der Wald als eine unzertrennbare Einheit. Die Erlaubnis, für Waldspaziergänge das Lager zu verlassen, wurde gerne erteilt. Als die Schrein-Priester einen Weg anlegten, halfen die Deutschen dabei. Von den Holz-Barracken ist nichts mehr übrig, aber eine bogenförmige deutsche Steinbrücke steht dort noch im Wald.
"Der Hauptpriester dieses Schreins wohnte am Bachlauf und nachdem die Brücke stand, hielt er eine kleine Zeremonie ab. Darin erwähnte er, dass diese Brücke 500.000 Jahre stehen solle. Die Schrein-Priester boten den Deutschen danach Bier an. Aber es war nicht gekühlt und so wurde kaum etwas davon getrunken. Das ist eine der Episoden, die aus dieser Zeit überliefert sind."
Tatsächlich mangelte es den Deutschen im Lager nicht an Bier. Auch sonst lebten sie dort ein fast alltägliches Leben und wenn man sich im Museum im Deutschen Haus die Ausstellungsstücke ansieht, vergisst man fast, dass es sich dort um Gefangene gehandelt hatte. Um sich die Zeit zu vertreiben, die Stunden, Tage, Wochen, Monate, ja Jahre, ohne Wissen, wann und ob sie je wieder nach Deutschland zurückkehren konnten, entwickelten sich die Deutschen zu echten Freizeit-Überlebensstrategen. Die Jüngeren legten sich einen Sportplatz mit Fußball- und Tennisfeldern an, die Älteren turnten an Geräten.
Innerhalb der Lagermauern entstand eine kleine Einkaufsstraße mit knapp 80 wirtschaftlichen Unternehmen. Darunter eine Druckerei, die die wöchentliche Zeitschrift "Die Barracke" herausbrachte, eine Fleischerei, eine Kegelbahn oder die "GeBa Bäckerei" – die Gefangenenlager Bando Bäckerei, die Christstollen, Käsestangen, Napfkuchen und täglich frische Brötchen backte und ihre Waren auch zu Deutschen in ganz Japan verschickte.
Deutsches Brot ist Japanern "viel zu schwer"
In Naruto gibt es die Bäckerei "Doitsu-Ken", übersetzt: deutsche Traufe. Klassische Musik tönt aus den Lautsprechern – ausnahmsweise mal nicht Beethoven. Bäcker Oka erzählt. Sein Vater hat das Hefeteig-Rezept von einem Bäckermeister gelernt und der direkt von den Deutschen. Aber bei den Japanern kam das in Reinform nicht gut an. Deshalb liegen heute in den Regalen süße Hefe-Stückchen gefüllt mit roter Bohnenpaste und schneeweißes Toastbrot. Kein Vergleich mit einer deutschen Bäckerei, weiß Herr Oka, der einst einen Bäckergesellen aus Lüneburg bei sich für zwei Wochen aufnahm. Fast entschuldigend sagt er, dass in Naruto nur das japanisierte Hefegebäck ankommt, dass man vom deutschen Brot selbst nicht so begeistert ist und lieber amerikansiches Toastbrot verzehrt.
"Wir heißen Doitsu-Ken, also denken hier alle, wir seien mit Deutschland verbandelt. Aber als die Bäckerei entstand, in den 50er-Jahren, gab es in Japan noch keine Brotkultur. Was den Japanern am ehesten schmeckte, war süßes Gebäck, das konnte man nachmittags essen, so wie japanischen Süßigkeiten. Wir Japaner mögen Brot weich, es sollte leicht zu kauen sein. Deutsches Brot schmeckt irgendwie – sauer. Und es ist viel zu schwer."
Sie konnten "An der schönen blauen Donau"
Neben der Brotkultur, erschien den Japanern in Naruto auch die Musik ungewohnt. Ein Mandolinenorcherster, das "Engel Orchester", und etliche andere entstanden. Herrmann Hake schreibt seiner Mutter immer wieder, wie sehr er Fortschritte machte im Geigenspiel. Jeden Tag mindestens zwei Stunden.
Das wollten auch Japaner aus der Umgebung hören und kamen immer mal wieder, um der fremden Musik zu lauschen. Eine Gruppe wohlhabender junger Männer wollte selbst spielen lernen. Der Orchesterleiter Paul Engel unterrichtete sie persönlich, einmal die Woche. Einer davon, war Herr Niki. Die westliche Musik hatte es ihm so sehr angetan, dass er über Beziehungen der Lagerinsassen ins Geschäft mit dem deutschen Geigenbauer "Häfner Geigen" kam. Er importierte dessen Geigen und vertrieb später auch die ersten in Japan hergestellten Yamaha-Klaviere.
Nikis Musik-Laden gibt es noch heute im Nachbarort Tokushima. Ein kleiner Raum, in dem Gitarren an den Wänden hängen, jeder Platz ist mit Noten, Verstärkern, Saiten vollgestopft. Frau Niki, die Tochter, verkauft hier noch immer Musikinstrumente. Die schon lange im Rentenalter angekommene Dame betreibt das Geschäft mit Leidenschaft. Sie packt alte Fotos aus und erklärt die ganze Historie.
"Die japanische Gruppe um meinen Großvater war nicht sehr gut, die konnten nur zwei Lieder spielen, den 'Donauwellenwalzer' und 'An der schönen blauen Donau'. Aber diese beiden Lieder wurden immer und immer wieder von ihnen verlangt."
"Dass wir das seit 100 Jahren fortführen, dass wir diese Verbindung haben, die weiter in die Zukunft reicht, darüber bin ich sehr dankbar."
Die Verbundenheit war da – zwischen den gerade mal 500 Einwohnern, die Naruto damals hatte und den 1000 deutschen Kriegsgefangenen im Lager.
Eine der letzten Postkarten, die die Bando Lagerdruckerei herstellte, zeigt das Eingangstor von Bando und einen Soldaten, der mit dem Taschentuch Abschied nimmt. Eine leere Bierflasche liegt auf dem Boden, ein Hund weint. Mehr nicht. Dazu die Worte: "Scheiden tut weh, aber nicht von Bando."
Die Neunte füllte die Kassen
"Nachdem die Deutschen 1920 weg waren, hat man sie nicht vergessen, aber es gab wenige Gelegenheiten, über sie zu sprechen."
Das haben der Leiter des Deutschen Hauses und die Bürger von Naruto in den letzten Jahren mit ihren vielen Aktivitäten gründlich nachgeholt. Es ist jetzt wirklich zur Heimat der Großen Neunten geworden. Nur wenn man ganz genau nachfragt, erfährt man, dass die Neunte Symphonie damals an diesem Junitag im Lager, nur von den Kriegsgefangenen selbst gehört wurde.
Wie es also dazu kam, dass die Neunte in Japan zu einem Heilsgesang hochstilisiert wurde, das ist eine Parallelgeschichte, zu der es viele Theorien gibt.
Prof. Koroyasu von der Naruto-Universität hat ein Buch bei sich liegen: "Die Neunte und ihr Einfluss auf Japan". Die plausibelste Theorie hat mit Japans Meiji-Zeit zu tun. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Japan in den Schulen Gesang unterrichtet – auch auf Deutsch.
Es entstanden auch viele Chöre, die vor allem aus Amateuren bestanden.
"Und am Jahresende, um nochmal ihre Kassen zu füllen, taten sie sich mit den Orchestern zusammen. Es schien ihnen, dass durch die Unterstützung der Instrumente mehr Geld zu verdienen war. Beethovens Neunte eignete sich dafür gut. Das wurde zum Brauch in ganz Japan."