Japans hochbetagte Gesellschaft
Die Oyaki-Bäcker Chikayoshi Gonda und seine Kollegin Matsumoto sind trotz ihres Alters von 92 und 86 Jahren noch berufstätig. © picture alliance / dpa / Lars Nicolaysen
Arbeiten bis 80
25:13 Minuten
Japan hat die älteste Bevölkerung der Welt. Rund ein Drittel ist im Rentenalter. Das Land versucht, sich auf die Alterung der Gesellschaft einzustellen. Beispielsweise gibt es Anreize, länger zu arbeiten.
„Hallo, ich bin 90 Jahre alt, die älteste Fitness-Lehrerin von Japan", sagt Takimika. Mit 79 Jahren habe sie angefangen, Krafttraining zu machen. "Schaut: So hat sich mein Körper verändert", zeigt sie. "Bitte gebt auf keinen Fall auf. Alter ist nur eine Zahl. Power Aging!“ Diese drahtige Neunzigjährige mit einem eigenen Instagram- und Youtube-Kanal ist in Japan ein Phänomen. Mika Takishima, wie Takimika mit vollem Namen heißt, verkörpert die neue Denkweise vieler Senioren, möglichst lange aktiv und gesund zu bleiben.
Zum Vorbild wurde sie, weil sie bis zum Rentenalter noch ein totaler Fitnessmuffel gewesen war, wie sie in jedem Interview freimütig eingesteht. „Der Grund, warum ich ins Fitnessstudio ging, war, dass ich fett war", sagt sie. "Mein Bauch bestand aus drei Rollen, sodass ich den Fußboden darunter gar nicht mehr sehen konnte. Eines Tages hat mein Mann mir gesagt, ich sollte doch mal zum Fitnessstudio gehen.“
Auf dem Weg in die Platingesellschaft
Mit ihrer enormen Vitalität mag Takimika unter den Superalten in Japan eine Ausnahme sein. Aber Tatsache ist: In der „gesunden Lebenserwartung“, also der Lebenszeit ohne körperliche Einschränkungen, liegt Japan weltweit an der Spitze. Im Vergleich zu Deutschland leben japanische Senioren im Schnitt zwei zusätzliche gesunde Jahre länger.
Mit diesem Pfund der aktiven und fitten Alten sollte Nippon wuchern, meint das Mitsubishi-Forschungsinstitut, eine führende Denkfabrik in Tokio. Sein Chefwissenschaftler Tomoo Matsuda propagiert eine „Platingesellschaft“. Viele Leute hätten ein negatives Bild von der hochalternden Gesellschaft, meint er. "Wir beschreiben sie oft als Silber-Gesellschaft, weil die Haarfarbe der Alten silbrig-weiß ist. In Japan heißen die Plätze, die in der Bahn für Behinderte und Alte reserviert sind, Silber-Sitze. Aber: Silber verliert an Glanz, nicht jedoch Platin." Und nur 30 Prozent der Bevölkerung seien alt. "Daher werben wir für eine Platingesellschaft, eine Gesellschaft für alle Generationen.“
Jeder vierte Rentner ist erwerbstätig
Sein Optimismus beruht darauf, dass viele Alte in Japan nicht in den Ruhestand wechseln. Jeder vierte Rentner ist erwerbstätig, im Alter zwischen 65 und 69 Jahren ist es sogar jeder zweite. Bei der Alterserwerbsarbeit liegt Japan daher zusammen mit Südkorea weltweit an der Spitze. Ein Trend den die Regierung in Tokio aktiv fördert: So erhalten alle Arbeitnehmer einen gesetzlichen Anspruch darauf, für ihren bisherigen Arbeitgeber bis 70 weiterzuarbeiten, wenn sie es wollen.
Auf diesen grundsätzlichen Perspektivwechsel in Bezug auf das Rentenalter hat der Elektronikhändler Nojima auf seine Weise reagiert: Seine 3000 Angestellten können sogar bis 80 erwerbstätig bleiben.
Darüber freut sich zum Beispiel Emiko Kumagai. Die kleine freundliche Dame mit hellwachen Augen ist schon 79, aber arbeitet in einer Nojima-Filiale in Tokio immer noch 18 Stunden in der Woche. „Wenn ich nach der Arbeit nach Hause komme, habe ich schon das Gefühl, dass ich gar nicht mehr stehen kann", sagt sie. "Und am nächsten Morgen frage ich mich beim Aufstehen jedes Mal, ob es heute noch klappt. Aber die Arbeit läuft immer rund, weil es mir so viel Spaß macht.“
Seit anderthalb Jahrzehnten steht Frau Kumagai in Diensten von Nojima. Lange Zeit verkaufte sie im Laden, nun kümmert sie sich im Lager um die eingehenden und ausgehenden Waren. Die kleine Frau lebt mit ihrer Tochter zusammen, der Ehemann ist schon verstorben. Aber sie will aktiv bleiben. „Wenn ich dauernd zu Hause bliebe, würde ich doch nur dement", meint sie. "Ich gehöre zur Generation von Kaiser Hirohito. Uns wurde immer gesagt: Leben heißt Arbeiten." Wer nicht arbeite, der solle auch nicht essen. "Außerdem mag ich diese Art von Arbeit. Ich spreche gerne mit Kunden und lerne auch von ihnen. Einige sind meine Freundinnen geworden und haben mir in schweren Zeiten geholfen.“
Arbeiten dürfen, nicht müssen
Mit älteren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen wie Frau Kumagai verfährt Nojima flexibel. Wer das gesetzliche Rentenalter von 65 Jahren überschritten hat, darf den Arbeitsvertrag immer wieder um drei, sechs oder zwölf Monate verlängern. Aktuell sind 41 Angestellte älter als 70 Jahre. Das Angebot, bis 80 weiterzuarbeiten, habe mehrere Vorteile, erläutert Personal-Manager Masakazu Toyama in der Firmenzentrale in Yokohama: „Erstens bleiben die Mitarbeiter fit, zweitens können sie sich sicher fühlen, wenn sie nach vorne blicken. Drittens: Die älteren Kunden behalten ihren gewohnten Verkäufer. Viertens: Die Älteren können ihre Berufserfahrung an die Jüngeren weitergeben."
Allerdings geht es bei der Altersarbeit auch um Geld. Die Renten in Japan fallen nicht gerade üppig aus, vor allem bei Frauen, die häufig nur Teilzeit gearbeitet haben. Jeder fünfte Rentner gilt offiziell als arm, verdient also weniger als die Hälfte des mittleren Einkommens.
Aber Japans Staat zahlt kaum Sozialhilfe, sondern fördert lieber die Erwerbsarbeit. Indem zum Beispiel die Rente nicht gekürzt wird, solange die Summe aus Rente und Zusatzverdienst im Monat unter umgerechnet 4000 Euro brutto liegt. Mit dieser großzügigen Regelung unterstützt der Staat jegliche Altersarbeit.
Jedoch dürfe in diese Richtung kein sozialer Druck ausgeübt werden, sorgt sich Mitsubishi-Wissenschaftler Matsuda, der für das Konzept der Platingesellschaft wirbt. „Das Schlüsselwort lautet Selbstbestimmung", sagt er. Wer weiter erwerbstätig sein wolle, der solle das tun. "Aber wer den Ruhestand bevorzugt oder ehrenamtlich arbeiten will oder ein neues Unternehmen gründen will, soll eben dies tun. Auf keinen Fall soll man bis 70 oder 80 arbeiten müssen.“
Demenz als große Herausforderung
Doch egal, wie gut Japan die Integration der Senioren in die Arbeitswelt gelingen wird – irgendwann werden viele körperlich eingeschränkt und pflegebedürftig sein. Als besonders große Herausforderung gilt dabei die Demenz, das Nachlassen der geistigen Leistungsfähigkeit vor allem durch die Alzheimer-Krankheit und durch Durchblutungsstörungen im Gehirn.
Laut Gesundheitsministerium leiden bereits knapp fünf Millionen Japaner und Japanerinnen an Demenz in verschiedenen Stadien. In drei Jahren sollen es bereits über sieben Millionen sein. Schon vor einiger Zeit erklärte die Regierung die Demenz zur Aufgabe für die ganze Gesellschaft. Man definiert die Krankheit nicht als medizinische, sondern als soziale Herausforderung. Dafür finden im ganzen Land für alle Bürger Aufklärungsseminare statt.
Lehrerin Miho Mineta hält ihren Vortrag über Demenz wegen der Pandemie per Video-Konferenz ab. Zu Beginn lässt sie einige Teilnehmer erzählen, wie sie Demenz-Kranke sehen. „Meistens sagen sie, dass Demenz-Kranke überhaupt nicht mehr denken können und der Gesellschaft zur Last fallen", sagt Miho Mineta. "Manchmal höre ich, dass jemand lieber Krebs haben will, als dement zu werden. Die Kinder sagen, das sei die Krankheit, die ihre Omas und Opas befällt.“
Krankheitsaufklärung von Nöten
In ihrem Seminar konzentriert sich Lehrerin Mineta darauf, wie man Demenz frühzeitig erkennt, wie man am besten mit den Kranken kommuniziert und welche Alltagsprobleme es mit ihnen geben kann. „Wir sprechen darüber, dass viele Demenz-Kranke von ihren Angehörigen misshandelt werden." Wenn man die Polizei rufe, müsse man diesen Umstand erklären. "Es gibt auch Probleme, wenn ein Mann seine demenzkranke Ehefrau betreuen und mit ihr auf die Frauentoilette gehen muss. Daher gibt es eine spezielle Ausweiskarte, die beweist, dass der Mann der Pfleger der Frau ist.“
Inzwischen haben 13 Millionen Japanerinnen und Japaner an diesem Seminar teilgenommen. Sie dürfen ein oranges Band am Handgelenk tragen – orange ist das Symbol für den positiven Umgang mit Demenz. In der Stadt Matsudo im Osten des Großraums Tokio gründeten einige Teilnehmer der Aufklärungsseminare sogar eine „Orangene Patrouille“ – der japanische Ausdruck „Olenji koe kake tai“ bedeutet wörtlich „die Truppe, die die Alten anspricht“.
Unterwegs mit der Demenz-Patrouille
Die Patrouille läuft zu Fuß durch ein Wohnviertel, verteilt Flugblätter für die Aufklärungsseminare und hält Ausschau nach Demenz-Kranken. Die 70-jährige Kazuko Hisamatsu, die als Leiterin der Patrouille auch den direkten Kontakt mit dem Gesundheitsamt hält, erzählt, worauf sie achtet. Denn auf den ersten Blick sei es nicht einfach, einen Demenz-Kranken auf der Straße zu erkennen. "Aber wenn jemand Winterkleidung im Sommer trägt oder zu große Schuhe oder Hausschuhe anhat, dann ist das ein gutes Indiz für Demenz. Ich frage diese Leute dann meistens, wie alt sie sind. Viele Demenz-Kranke nennen dann das Alter, in dem sie noch aktiv und fit waren.“
Andere Anzeichen für eine Demenz-Erkrankung, die der Patrouille auffallen: Wenn bei Alleinstehenden der Garten verwahrlost, oder wenn die Wäsche, die auf dem Balkon zum Trocken hängt, tagelang nicht hereingeholt wird.
Dann benachrichtigt Frau Hisamatsu das lokale Pflegezentrum, das einen Mitarbeiter schickt. Japanweit gibt es solche Patrouillen bisher nicht. Aber weil die Alltagsprobleme mit Demenzkranken zunehmen, wächst das Bewusstsein für die Krankheit – eine positive Entwicklung mit Blick auf die Platingesellschaft, meint Mitsubishi-Forscher Matsuda. „Wir müssen zum einen die Lebenserwartung verlängern und zum anderen uns auf kranke Senioren, zum Beispiel mit Demenz, konzentrieren", meint er. Dabei solle die Würde im Zentrum stehen. "Wir sollten die Kranken zur sozialen Teilhabe ermutigen. Gleichzeitig müssen wir Hochtechnologien einsetzen, wenn wir uns um demente und schwerkranke Menschen kümmern." Japan habe jede Menge Hochtechnologien. "Aber: Sie sollen nur Mittel zum Zweck sein, also für Lebensqualität sorgen.“
Technische Lösungen für Hochbetagte
„Ich bewege mich jetzt in Richtung Ziel. Ich beginne, dem Fußgänger zu folgen.“ So ikommuniziert ein autonom fahrender Rollstuhl über Lautsprecher mit seinem Nutzer und informiert gleichzeitig seine Umgebung. Die Maschine ist eines der Zukunftsprojekte für die hochalternde Gesellschaft im Roboterlabor der Chuo-Universität in Tokio. Außer selbstfahrenden Rollstühlen entwickelt Leiterin Mihoko Niitsuma vor allem sogenannte „intelligente Räume“, damit Senioren möglichst lange in ihrer gewohnten Umgebung bleiben und leben können.
„Wir können die Sensoren und die Rechenkraft eines Roboters in einem Raum verteilen und über das Internet verbinden. Dadurch können wir alles in dem Raum aus der Entfernung beobachten und die Situation der Menschen darin erkennen", sagt Mihoko Niitsuma. "Dann kann der intelligente Raum entscheiden, wie sich der Person helfen lässt, zum Beispiel benötigte Informationen geben, die Zimmertemperatur ändern oder die Lichthelligkeit anpassen. Das ist das Konzept eines intelligenten Raums.“
Die Technologie basiert auf Lidar-Detektoren, die auch autonome Autos verwenden, um Menschen im Verkehr zu erkennen. Lidar dringt weniger in die Privatsphäre ein als Videokameras. Nach Ansicht der Professorin sind solche intelligenten Räume schon in wenigen Jahren kommerziell einsetzbar. Die Kosten für das Sensorensystem schätzt Professorin Niitsuma auf umgerechnet 2000 Euro.
Vertrauen ist Voraussetzung
„Wahrscheinlich brauchen wir noch eine menschliche Schnittstelle zwischen dem intelligenten Raum und den Nutzern", meint sie. Es sei entscheidend, dass man dem System vertraut. "Alte Leute werden sich daran Schritt für Schritt gewöhnen – beim Smartphone zum Beispiel teilen wir auch private Informationen, weil es uns Vorteile bringt. Ich glaube daher, dass das Konzept von Privatsphäre sich mit der Technologie ändert.“
Zum Beispiel könnten ambulante Pflegedienste das System nutzen, um bedürftige Senioren aus der Ferne zu beobachten, statt einen Pfleger zu schicken. Denn das Pflegepersonal ist knapp. Als ultimative Lösung tauchen in amtlichen Strategiepapieren daher immer wieder Pflegeroboter auf. Doch dabei handelt es sich offenbar mehr um einen Mythos.
Trotz vieler Prototypen setzt praktisch kein Altenheim und kein Krankenhaus in Japan echte Robotertechnologien in der Pflege ein. Das fand der deutsche Wissenschaftler Patrick Grüneberg von der Universität Kanazawa heraus, der dafür zahlreiche Ärzte und Pflegemitarbeiter befragt hatte. „Als wir nachfragten, wie das jetzt mit der Pflegetechnik so ist, da meinten sie, es ist einfach nicht wirklich ein Thema", erzählt er. "Wenn man es benutzen könnte, wenn sie irgendwie uns die Arbeit erleichtern würde, dann würden wir das auch benutzen. Aber es gibt es schlichtweg nicht. Weil die Sachen, die wir kennen, nicht wirklich brauchbar sind. Es sind die ganz banalen Probleme. Entweder braucht es eine sehr große Einarbeitungszeit, um solche Geräte zu benutzen, und dann ist die Frage: Ist es wirklich ein Zeitgewinn?“
Ziel ist die Zusammenführung der Generationen
Auch mit modernster Technik werden sich die Probleme der hochalternden Gesellschaft auf absehbare Zeit also nicht schnell lösen lassen. Es bleibt die Aufgabe der Menschen, eine Platin-Gesellschaft, die die Senioren und Seniorinnen integriert und respektiert, aufzubauen und umzusetzen.
Daher unterscheidet Mitsubishi-Forscher Matsuda zwischen der notwendigen Hardware und Software. „Hardware steht für die Infrastruktur, für Wohnungen und Verkehr, zum Beispiel in einer Smart City. Zur Software gehören Solidarität, soziale Beteiligung, lebenslanges Lernen und die Zusammenführung der Generationen. Um die Platin-Gesellschaft zu verwirklichen, müssen wir entscheidend eine Mischung und eine Synergie von Hard- und Software erreichen.“
Software, man könnte auch sagen Liebe und Leidenschaft, ist also gefragt, damit ein Miteinander der Generationen in der hochalternden Gesellschaft entsteht. Der Weg bis zu diesem Idealzustand ist sicher noch weit – aber Japan hat sich bereits dorthin aufgemacht.