Javier Cercas: "Der falsche Überlebende"

Erlogene Vita als ehemaliger KZ-Häftling

Cover von Javier Cercas "Der falsche Überlebende", im Hintergrund eine Aufnahme von einem Wachturm im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen aus dem Jahr 2017
Cover von Javier Cercas "Der falsche Überlebende", im Hintergrund eine Aufnahme von einem Wachturm im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen aus dem Jahr 2017 © S. Fischer / imago/Rudolf Gigler / Collage: Deutschlandradio
Von Carsten Hueck |
Vom Katalanen und Betrüger Enric Marco, der sich über Jahrzehnte als ehemaliger KZ-Häftling ausgab, erzählt Javier Cercas in "Der falsche Überlebende". Eine erschreckende Geschichte, die Überlegungen zu Moral und Wahrheit anstellt.
Mehr als 9000 Spanier wurden während der Naziherrschaft in deutsche Konzentrationslager deportiert, die meisten nach Mauthausen. Im Mai 2005 sollte dort, anlässlich des Gedenktages zum 60. Jahrestag der Befreiung des Lagers, der Vorsitzende der Vereinigung ehemaliger spanischer KZ-Häftlinge, der Katalane Enric Marco, in Anwesenheit des spanischen Ministerpräsidenten und des österreichischen Präsidenten eine Rede halten.
Im letzten Moment wurde der Ablauf geändert und Marco von den KZ-Überlebenden gebeten, abzureisen: Es hatte sich herausgestellt, dass er nie in Mauthausen gewesen war. Und auch nicht in Flossenbürg, wie er immer behauptet hatte. Seine Vita als ehemaliger KZ-Häftling, als Mitglied der Resistance, als Held im Kampf gegen die Franco-Truppen während des Spanischen Bürgerkrieges war komplett erfunden.

"Rockstar der historischen Erinnerung"

Der spanische Autor und Literaturprofessor Javier Cercas, dessen Bücher in mehr als 30 Sprachen übersetzt sind, wollte nie über Marco schreiben, den "Rockstar der historischen Erinnerung", der unzählige Vorträge und Reden über die Vergangenheit gehalten hatte. Doch schließlich traf Cercas, dessen Romane immer auch Rekonstruktionen von Wirklichkeit und streckenweise wie Essays zu lesen sind, den "schamlosen Betrüger und Heuchler" persönlich – und kam nicht mehr von ihm los.
Er begegnete einem agilen Narzissten, der als "Romancier seiner selbst" über Jahrzehnte Erfolg gehabt hatte. Marco war eine geachtete öffentliche Persönlichkeit – nach dem Ende der Franco Diktatur Generalsekretär der legendären Gewerkschaft CNT und rühriger Anführer der Elternverbände katalanischer Schulen. Er habe doch "Gutes" bewirkt, versucht sich der charismatische Achtundachtzigjährige zu rechtfertigen.
Das Buch versammelt die Ergebnisse von Cercas detaillierten Nachforschungen – er weist nach, dass Marco nicht nach Deutschland deportiert worden war, sondern sich freiwillig zum Arbeitseinsatz gemeldet hatte. Dass er nicht aus politischen Gründen im Gefängnis saß, sondern wegen krimineller Vergehen.

Kleine Wahrheiten in großem Lügenmärchen

Eine Frage treibt den Autor besonders um: Wie war es möglich, dass Marco mit seinen Legenden so lange durchkam? Er gibt zwei Antworten: Große Lügen, so Cercas, sind immer aus kleinen Wahrheiten gebastelt, ein Lügenmärchen muss mit Wahrheiten durchmischt sein. Und zum anderen: Marco unterschied sich nicht von der Masse – auch wenn er temperament- und fantasievoller war. Er nutzte den Zeitgeist aus, spürte, wohin der Wind blies und bewegte sich rechtzeitig in die richtige Richtung. So wie sich die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse änderten, so änderte er seinen Lebenslauf. Marco, so Cercas, ist ein Abbild seines Landes.
Über tiefe Einblicke in die Geschichte Spaniens hinaus bietet "Der falsche Überlebende" jede Menge Überlegungen zu Fragen der Moral, der Wahrheit, des Verhältnisses von Literatur und Wirklichkeit. Das Buch zeigt, welchen Glanz die Fiktion der Wirklichkeit verleihen kann. Cercas zieht Parallelen zu Don Quijote, misst die eigene Position an Truman Capote ab, zitiert Plato, Kant und Camus. Die wahre Geschichte eines falschen Helden – unterhaltsam und nützlich, anregend und erschreckend.

Javier Cercas: "Der falsche Überlebende"
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2017
493 Seiten, 24,00 Euro

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