Epos der Migration
© Kiepenheuer & Witsch
Als Kind allein und illegal in die USA
06:30 Minuten
Javier Zamora
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
Solito. Eine wahre GeschichteKiepenheuer & Witsch, Köln 2024496 Seiten
26,00 Euro
Der amerikanische Lyriker Javier Zamora kam als Neunjähriger aus Lateinamerika mit einem Schlepper in die USA. Die Geschichte dieser albtraumhaften Reise hat er aufgeschrieben. Es ist ein umwerfendes Buch, das den Blick auf Migration verändert.
Javier Zamora war gerade neun Jahre alt, als er sich aus der salvadorianischen Kleinstadt La Herradura auf den Weg in die USA machte. Er wollte zu seinen Eltern nach Kalifornien.
Alle sicheren, bequemeren Wege zu ihnen waren verschlossen: Als „Illegale“ durften die Eltern ihn nicht offiziell nachholen; auch ein Versuch scheiterte, mit falschen Papieren an ein Visum zu kommen. Also blieb nur Don Dago, ein hoch bezahlter „Kojote“. Er hatte vor Jahren schon Javiers Mutter in einer relativ unkomplizierten zweiwöchigen Reise ins gelobte Land geschleust.
Zamora schrieb 22 Jahre nach seiner albtraumhaften Reise nieder, was dem Kind in den mehr als zweieinhalb Monaten von Versteck zu Versteck, im offenen Boot auf dem Meer, in Bussen, auf Lastwagen, in Verschlägen, verschwiegenen Motels und auf endlosen Fußmärschen durch die Wüste zustieß.
Traumatische Szenen
Zweimal wurden er und seine kleine Gruppe in der texanischen Wüste erwischt, beim dritten Mal schafften sie es über die Grenze. Da waren außer ihm nur noch ein Mann, eine Frau und ein weiteres Kind übrig. Es war nicht selbstverständlich, dass er überlebte.
Was Zamora das Leben rettete, war die Hilfe seiner Mitreisenden. Ein paar mutige Menschen, die selbst viel zu verlieren hatten, schützten das Kind unter der eigenen Jacke auf dem Meer inmitten von Benzindämpfen, Kotze und Wasser: Sie schleppten es durch die Wüste, zum Teil buchstäblich, teilten das wenige Wasser, das Essen und den Schlafplatz mit ihm – das Motelbett, oder den nackten Boden.
Vor allem aber bedeuteten sie eine emotionale Verbindung, eine Familie auf Zeit in einer nicht nur fremden, sondern auch höchst bedrohlichen Umgebung. Mit solchen Menschen, denkt man, kann eine Gesellschaft eigentlich nur gewinnen.
Zamora, der nach eigener Aussage jahrelang nie über seine Erlebnisse gesprochen hat, schildert sie in allen Details, mit der surrealen Deutlichkeit von Erinnerungen, die sich überscharf ins Gedächtnis gebrannt haben: die Konsistenz schalen Brotes, der Geruch seiner mütterlichen Begleiterin, das Mienenspiel der verschiedenen Schleuser, aus dem das Kind den Ernst der Lage zu lesen versucht, der Anblick nackter Penisse im Gefängnis, der Geschmack des Staubs im Mund, als sie alle vor den Gewehrläufen auf dem Boden liegen – bis das Schmiergeld bezahlt ist.
Anderer Blick auf Boote im Mittelmeer
Zamora ist Lyriker, und es ist offensichtlich, dass dieser Text nicht heruntergeschrieben wurde, sondern Satz für Satz nacherlebt, durchdacht, geklärt und absichtsvoll formuliert wurde. Die vielen spanischen Brocken darin (im Anhang getreulich übersetzt) vergegenwärtigen zusätzlich den umgangssprachlichen Tonfall einer Kindheitssprache.
Entstanden ist – auf Englisch – ein musikalisches, unsentimentales und deshalb umso eindringlicheres Epos der Migration. Wer es gelesen hat, wird anders auf die belarussischen Wälder, die türkischen Grenzflüsse und die kleinen Boote im Mittelmeer blicken.