„Laizität ist die Freiheit, eine Meinung zu haben“
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In Frankreich sind Staat und Kirche streng getrennt. Doch was heißt das eigentlich konkret? Und lassen sich religiöse Konflikte mit Laizismus besser lösen? Das haben wir Religionsberater Jean-Christophe Peaucelle vom französischen Außenministerium gefragt.
Anne Françoise Weber: Von Religionskritikern ist immer wieder zu hören, dass Deutschland doch endlich mal dem französischen Modell folgen und die Trennung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften strikter durchführen, also zum Beispiel den Religionsunterricht an den Schulen abschaffen sollte.
Laïcité lautet das Schlagwort dafür – es ist schwer übersetzbar, am nächsten kommt ihm das ungebräuchliche Fremdwort Laizität, das Sie im folgenden ziemlich oft hören werden, denn alles andere sind komplizierte Umschreibungen oder Begriffe wie Säkularismus, die eben doch etwas anderes meinen. Die Laizität ist in Frankreich so wichtig, dass es dafür eine eigene Beobachtungsstelle gibt.
Das französische Außenministerium hat einen eigenen Berater für religiöse Fragen. Eine seiner Aufgaben ist es, die Laizität im Ausland bekannt zu machen. Zurzeit übt diese Funktion der Diplomat und frühere französische Botschafter in Katar, Jean-Christophe Peaucelle, aus. Vor einigen Tagen war er in Berlin, wo er einen Vortrag gehalten hat und wo ich ihn vor der Sendung sprechen konnte. Zunächst wollte ich von ihm wissen, wie sich die Laizität seit ihrer gesetzlichen Verankerung 1905 bis heute denn verändert hat:
Jean-Christophe Peaucelle: Ich glaube, man muss zunächst festhalten, dass das Wort Laizität nicht explizit im Gesetzestext vorkommt. Das Konzept ist durch das Gesetz definiert, das ist eine lange, fast hundertjährige Geschichte eines Konfliktes, fast eines ideologischen Bürgerkriegs zwischen zwei Frankreichs – dem katholischen, eher royalistischen und konservativen Frankreich und dem republikanischen, eher antiklerikalen Frankreich. Das Gesetz von 1905 ist eine Art Friedensvertrag.
Die Rechtsprechung folgt einer liberalen Auslegung, auch beim Burkini
Aber das Gesetz regelt viele praktische Dinge über die Güter, den Besitz und erwähnt die Prinzipien nur sehr allgemein. Deswegen hat die Rechtsprechung, vor allem die des Conseil d’Etat als oberstes Verwaltungsgericht, das Konzept der Laizität ausgefüllt und nach und nach eine Interpretation des Konzepts aufgebaut, die ich liberal nennen würde. Das heißt, der Conseil d’Etat hat festgelegt, dass das Grundprinzip die Freiheit ist.
Vor zwei Jahren haben wir das nochmal gesehen, als einige Kommunen den Burkini, diesen Ganzkörper-Badeanzug für Musliminnen verbieten wollten. Der Conseil d’Etat hat diese Dekrete gestoppt und gesagt: Das Grundprinzip ist die Freiheit, die Freiheit, sich zu bewegen und sich anzuziehen, wie man will. Und selbst wenn Sie den Burkini nicht mögen: Wenn eine Frau im Burkini am Strand ist, dann stört das nicht die öffentliche Ordnung. Die Rechtsprechung hat also diese auf der Freiheit beruhende Interpretation gefestigt.
Weber: In einer von der Tageszeitung Le Monde beauftragten Umfrage haben kürzlich 73 Prozent der Befragten gesagt, ihnen sei die Laizität wichtig, gleichzeitig sagten 37 Prozent, die Laizität sei ein Prinzip, das in der Praxis spalte. Wie lässt sich das erklären und vor allem: wie lässt sich das ändern?
Peaucelle: Das sind Widersprüche jeder plural-pluralistischen Gesellschaft wie der unseren. Tatsächlich gab es von Anfang, als das Parlament über das Gesetz debattierte, zwei Schulen: die eine, die ich laizistisch nennen würde, verstand die Religion als etwas, von dem man sich befreien musste. Man konnte sie nicht ganz unterdrücken, aber man musste sich davor schützen.
So war die Auffassung des damaligen Ministerpräsidenten Emile Combes, der die Religion durch den Staat kontrollieren wollte. Das ist ein wenig die Vorstellung von Laizität, die Atatürk in der Türkei umgesetzt hat. Und die andere Vorstellung war die des Abgeordneten Aristide Briand, der nicht besonders fromm war, aber der dachte, dass die Freiheit und der soziale Frieden wichtiger seien.
Laizität sollte vereinen – die Debatten darüber spalten eher
Diese liberale Auffassung hat sich durchgesetzt, aber die erste Auffassung bleibt bestehen im Geist, im Unterbewussten, in diesem kollektiven Gedächtnis, das eine Nation begründet. Vergessen Sie nicht, dass 1789 die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte besagt: Niemand darf seiner Überzeugungen wegen belästigt werden, nicht einmal die religiösen. Diese Formulierung sagt viel aus über die Debatte, die Frankreich zerrissen hat.
Ich persönlich glaube nicht, dass die Laizität spaltet – im Gegenteil, sie befriedet. Was spaltet, das sind unsere Debatten über die Laizität, das heißt, die bisweilen falschen Interpretationen, die wir machen. Aber die Laizität spaltet nicht, sie vereint. Wie es die zuständige Beobachtungsstelle ausdrückt: Laizität ist keine Meinung, sie ist die jedem gegebenen Freiheit, eine Meinung zu haben.
Weber: Sie sprechen viel von Freiheit – ich habe das Zitat einer muslimischen Schülerin gefunden, die sagt, die Pflicht, jedes Mal das Kopftuch abzulegen, bevor sie in die Schule geht, würde sie dazu zwingen, einen Teil ihrer selbst zuhause zu lassen. Außerdem würde ihr das eher Türen in der französischen Gesellschaft verschließen. Was antworten Sie?
Peaucelle: Meine Antwort ist, dass ich das verstehen kann. Aber man muss verstehen, was der Staat mit diesem Gesetz von 2004 bewirken will, das eine gewisse Ausnahme darstellt. Denn die Laizität besagt, dass der Beamte neutral ist – als Beamter trage ich also kein religiöses Zeichen – dass aber der Nutzer, das wäre in diesem Fall der Schüler, frei ist.
Das Kopftuchverbot soll Mädchen vor Druck aus ihrer Umgebung schützen
Nun gab es aber Ende des 20. Jahrhundert in einigen Regionen Frankreichs starken Druck, Drohungen, manchmal sogar Gewalt gegen junge muslimische Mädchen, die kein Kopftuch trugen. Ihre Umwelt übte Druck aus und sagte: Wenn du dich nicht verschleierst, bist du eine schlechte Muslimin, du wirst in die Hölle kommen und so weiter.
Das Gesetz wurde nach sehr langen Diskussionen um das Für und Wider verabschiedet, um diese jungen Mädchen vor dem Druck zu schützen. Das zeigt wieder, dass das immer gesuchte Prinzip letztlich die Freiheit ist. Hier wird eine Freiheit beschränkt, um eine andere Freiheit zu schützen, wenn ich das so sagen kann.
Weber: Aber wenn wir von Freiheit sprechen, warum sollte die dann auf die Schule beschränkt werden? Warum wird dann das Tragen des Kopftuchs nicht beispielsweise allgemein im öffentlichen Raum Minderjährigen verboten?
Freiheit auf Religionsausübung - auch in der Öffentlichkeit
Peaucelle: Aus dem einfachen Grund, dass auch hier wieder die Freiheit vorgeht. Wenn ich die Forderung höre: Keine Religion im öffentlichen Raum, dann muss ich sagen: Achtung, das entgleist. Die Religion ist Privatsache, das heißt es ist meine persönliche Entscheidung, ob ich glaube oder nicht, und wenn ich glaube, ob ich ein wenig oder sehr stark glaube, wie ich meinen Glauben ausübe etc.
Manche fügen hinzu, die Religion müsse auf den privaten Raum beschränkt sein. Dem kann man sich nicht anschließen, denn das internationale Recht auf Religions-und Gewissensfreiheit garantiert, seine Religion auszuüben, allein oder in der Gruppe, im öffentlichen Raum oder im privaten, in Ritualen, Unterricht und Gottesdiensten. Das heißt, hier geht wieder die Freiheit vor.
In der Schule hat der Staat die Pflicht, die Kinder in diesem Raum zu schützen und den Frieden zwischen den Kindern zu wahren. Übrigens gilt das Verbot, auffällige religiöse Zeichen zu tragen, nicht in der Universität. Denn da geht man davon aus, dass das junge Erwachsene sind, die frei sind und sagen können: Das tue ich oder nicht, ohne Druck nachzugeben.
Laizität muss pragmatisch sein
Weber: In Deutschland ist wenig bekannt, dass im Elsass das Gesetz von 1905 nicht gilt, da zum Zeitpunkt seiner Verabschiedung das Elsass nicht zu Frankreich gehörte. Das heißt, es gilt immer noch das Konkordat mit der katholischen Kirche und ähnliche Regelungen mit anderen Religionsgemeinschaften und es gibt beispielsweise Religionsunterricht an der Schule. Ist das für Sie ein Makel, der eines Tages beseitigt werden sollte, oder ist es vielleicht sogar ein Vorteil, weil dort zum Beispiel eine Fakultät für islamische Theologie an der staatlichen Universität denkbar ist, wie es dort – anders als im sonstigen Frankreich - auch Fakultäten für katholische und evangelische Theologie gibt?
Peaucelle: Ich halte das sicher nicht für einen Makel, sondern für einen Reichtum in mehrfacher Hinsicht. Zunächst, weil die Leute sehr daran hängen. Fragen Sie mal die Elsässer, ob sie das aufgeben wollen – da gibt es gleich heftigen Widerstand. Es ist wichtig, dass die Bevölkerung sich die Gesetzgebung zu eigen macht. Zweitens zeigt das, dass die Republik und der Grundsatz der Laizität pragmatisch sein können. Die Laizität ist das Gegenteil einer Ideologie; es ist ein politischer Kompromiss zwischen zwei Lagern, die sich gegenüberstehen und sagen: Letztlich gehören wir zu einer nationalen Gemeinschaft und wollen zusammen leben und arbeiten. Und das funktioniert.
Das heißt, es gibt einen Pragmatismus und die laizistische Republik ist fähig, lokale Anpassungen auszuhalten. Das ist übrigens nicht die einzige, in den Überseegebieten gibt es auch besondere Regelungen. Und die Laizität wird nicht im Ausland angewandt. So habe ich französische Gymnasien im Ausland gesehen, die sich in einem Kloster befinden, weil wir da die Gebäude günstig mieten können. Dieser Pragmatismus ist sehr wichtig, wenn man ihn aufgibt, verfällt man in Ideologie und spaltet. Wenn man eine Entscheidung in Bezug auf die Laizität treffen muss, muss man sich immer fragen, ob sie spalten oder vereinen wird.
Kein Wert, sondern ein Grundsatz
Außerdem zeigt das, dass die Laizität – selbst wenn das manche schockiert – kein Wert der Republik ist. Die lauten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die Laizität setzt diese Werte im sehr sensiblen Bereich der Überzeugungen um, sie ist ein Grundsatz. Wenn wir uns den Fall des Elsass und des Département Moselle anschauen, dann zählen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Und die Regelungen des Konkordats erlauben, das auf eine Art umzusetzen, die die lokale Bevölkerung akzeptiert.
Weber: Und wenn Sie sich das deutsche System anschauen, in dem es wohl die Trennung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften gibt, in dem ihnen aber ein größerer Platz im öffentlichen Raum und vor allem im Bildungssystem eingeräumt wird – was halten Sie davon?
Peaucelle: Das ist sehr interessant. Ich habe den Tag hier in Berlin mit vielen Gesprächen mit Vertretern der Regierung und der Religionsgemeinschaften verbracht. Mich beeindruckt vor allem, wie sehr die Deutschen anscheinend an diesem System hängen. Ich möchte das den Franzosen gegenüber stellen, die sehr an der Laizität hängen.
Deutsche und Franzosen sind geprägt von ihrem Erbe
Als guter Diplomat, der die deutsch-französischen Freundschaft für überlebenswichtig hält, möchte ich noch ein Stück weitergehen: Letztlich haben wir die gleichen Werte. Wenn ich jemandem die ganze Zeit von Laizität rede, dann besteht das Risiko, dass mein Gesprächspartner denkt: Na, die Franzosen sind ja ganz nett mit ihrer Laizität, aber das ist doch ein wenig ermüdend. Wenn ich von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit rede, wird mich mein Gesprächspartner mit leuchtenden Augen voller Freundschaft anschauen. Im Grunde ist es aber das Gleiche.
Also müssen wir wissen, was die Ziele sind – und das sind diese Werte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die können wir teilen. Letztlich haben Sie, die Deutschen, und wir, die Franzosen, jeweils unser eigenes Erbe, unsere Kultur. Wir sind keine theoretischen Wesen, wir haben unseren Hintergrund. Und im französischen Fall ist das der Konflikt zwischen der katholischen Kirche und der Republik. Und ich denke, in Deutschland ist die größte Problematik das Zusammenleben zwischen Katholiken und Protestanten. So muss jeder mit seinem Erbe leben. Und es ist wichtig, dass wir das beste System finden, das zu jedem Land passt, immer auf der Suche nach der Freiheit und Gleichheit, die vorgehen und die die Brüderlichkeit ermöglichen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.