Jean-Luc Godard

Filme über (das) Filmemachen

Porträt des Regisseurs Jean-Luc Godard in Zürich, 1990.
Godards Filme sind und waren immer umstritten. Sie sind kein Kino, das kommerziell erfolgreich ist. Sie sind nicht einfach zu entschlüsseln. © picture alliance / keystone / Jann Jenatsch
Von Beate Becker |
Der revolutionäre Filmregisseur Jean-Luc Godard, der in dieser Woche gestorben ist, lebte mehr als 40 Jahre am Genfer See in der Schweiz, wo er auch aufwuchs. 25 Jahre seines Lebens arbeitete er in Paris. Sein Werk umfasst über 100 Filme und Videoarbeiten.
Jean-Luc Godard wird 1930 in Paris geboren und wächst in der Schweiz am Genfer See auf. Sein Vater ist Arzt und Besitzer einer Privatklinik, seine Mutter stammt aus einer angesehenen Schweizer Bankiersfamilie. 1946 kommt Godard nach Paris. Er bereitet sich auf das Abitur vor und schreibt sich 1949 an der Sorbonne in Ethnologie ein. Zugleich lernt er in Paris auch die Welt der Ciné-Clubs und die Cinémathèque Française kennen. Er kommt mit dem Film in Berührung und trifft auf François Truffaut, Claude Chabrol, Éric Rohmer und Jacques Rivette. Das Kino wird für sie "Schule des Sehens und des Lebens".
Sie begründen die Nouvelle Vague und erfinden den Autorenfilm neu. Sie schreiben für die von André Bazin heraus gegebenen Filmzeitschrift Cahiers du cinéma zunächst Filmkritiken, bevor sie selbst Filme "schreiben". Ihre Kritik gilt dem etablierten kommerziellen französischen "Qualitätskino", wie Truffaut es nennt, was sich auch gegen die Literaturbearbeitungen im französischen Kino jener Zeit richtet, die den Geist der Vorlagen verfälsche.

Godards Filmdebut

Jean-Luc Godards Debütfilm entsteht 1954 in der Schweiz: Opération Béton, ein 16 Minuten langer Industriefilm über den Bau einer Staumauer. Bereits in diesem ersten Film wird deutlich, dass er dem Klang einen ebenso großen Wert beimisst wie dem Bild. Danach dreht Godard Kurzfilme wie "Alle Jungs heißen Patrick", "Veronique et son Jules" und "Eine Geschichte des Wassers". In diesem Film erinnert er an den Surrealisten Louis Aragon, der später sagen wird: "Die Kunst von heute, das ist Jean-Luc Godard."
Der französiche Regisseur Jean-Luc Godard im Vordergrund mit Anna Karina.
Acht Filme drehten Anna Karina und Jean-Luc Godard zusammen, fast alle im heftigen Streit, fast alle Klassiker.© imago images / Photo12 / Luc Fournol
Wilfried Reichart arbeitet seit den 70er-Jahren für den WDR und leitet von 1980-2004 die Filmredaktion des WDR Fernsehens. Er hat Godard in diesem Rahmen mehrfach getroffen und interviewt. Er erzählt, dass Godard in Paris sitzt und sich an eine Zeitungsnotiz erinnert, die ihm Truffaut gegeben hat von einem Gangster, der ein Auto klaut, und einen Polizisten umbringt. Darauf hat Truffaut notiert, "könnte ein interessantes Drehbuch werden".
"Und dann schnappt er sich diesen Zettel, geht nach Cannes und spricht den Produzenten Beauregard an und sagt, hier ich muss diesen Film machen und der Beauregard sagt, aber hör mal, Sie wissen nicht, wie man Filme macht, sie haben vielleicht viele Filme gesehen, und außerdem, ich meine, sind Sie doch irgendwie ein bisschen ein dubioser Typ, aber Truffaut und Chabrol überzeugen Beauregard und sagen, lass es ihn machen."
Mit diesem ersten Spielfilm, "À bout de souffle", "Außer Atem", wird Jean-Luc Godard als 30-Jähriger schlagartig berühmt.
Jean Seberg am Set von "Außer Atem".
Jean Seberg am Set von "Außer Atem". © imago / ZUMA Wire / JT Vintage
Gedreht wird nicht im Studio, sondern in Cafés, in Hotelzimmern und auf den Straßen von Paris. Im Film sieht man Passanten, die stehenbleiben und sich nach dem Filmteam umdrehen. Als Kameramann engagiert er Raoul Coutard, ging 1945 nach Indochina und arbeitete als Kriegsfotograf in Vietnam. Coutard berichtet:
"Godard hat nie ein Drehbuch geschrieben. … Klar war, dass ohne Kunstlicht gedreht wurde und dass versucht werden sollte, so viel wie möglich aus der Hand zu drehen. In dieser Zeit drehte man stumm. Jean-Luc schrieb täglich die Szenen in ein Notizheft. Er sagte den Schauspielern den Text und die Schauspieler wiederholten ihn während des Drehens. Alles wurde dann später synchronisiert."
Über Coutard sagt Wilfried Reichart, er "war der erste, der plötzlich gemerkt hat, da passiert was Neues, der macht etwas ganz Tolles. Der zwingt nicht die Schauspieler etwas zu tun, sondern er bringt sie in eine Situation, wo von den Schauspielern was kommt."

Geburt der Nouvelle Vague

"Außer Atem" ist Godards kommerziell erfolgreichster Film und markiert zugleich die Geburtsstunde der Nouvelle Vague, der Erneuerungsbewegung, die mit den Traditionen des Kinos bricht. Die Filmemacher denken das Medium neu, lassen ihre persönliche Sicht auf die Welt in die Filme einfließen und sichern sich die künstlerische Kontrolle über ihre Werke.
"Fotografie ist Wahrheit. Kino, das ist Wahrheit, vierundzwanzig Mal in der Sekunde." Dieser Satz, den er angeblich auf ein Tischtuch gekritzelt haben soll, ist einer der meist zitierten, wenn es um das Werk Godards geht, und fällt auch in seinem nächsten Film.
Anna Karina in Vivre sa Vie von 1962.
Anna Karina in "Vivre sa Vie" von 1962.© imago / Prod.DB / COLLECTION CHRISTOPHEL
Im Frühjahr 1962 beginnen die Dreharbeiten zu "Vivre sa vie", "Die Geschichte der Nana S.". Es ist ein Schwarz-weiß-Film in zwölf Bildern, durch Zwischentitel voneinander getrennt. "In ´Vivre sa vie` habe ich versucht, eine geistige Bewegung zu filmen, das Innere einer Person, die ich von außen filme", sagt Godard selbst über den Film.
"Vivre sa vie" gewinnt bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig einen Sonderpreis der Jury und einen Kritikerpreis. In den nächsten Jahren dreht er einen Film nach dem anderen.
Filmszene mit Brigitte Bardot und Michel Piccoli in "Die Verachtung" (Le Mepris) von 1963.
Brigitte Bardot und Michel Piccoli in "Die Verachtung" (Le Mepris) von 1963.© imago / Everett Collection
"Le Mépris", "Die Verachtung", der 1963 in die Kinos kommt, basiert auf dem Roman des Schriftstellers Alberto Moravia und ist ein Film über das Filmemachen. André Bazin sagt über die Verachtung: "Die Verachtung ist die Geschichte dieser Welt."
Es ist Godards sechster Film. Mit den beiden Stars Brigitte Bardot und Michel Piccoli, einem Budget von einer Million Dollar und amerikanischen Produzenten, was ökonomischen Druck bedeutete. Eines der vielen Themen des Films sind die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn man einen Film aus einem Roman macht.
1964 beginn er sein nächstes Projekt "Alphaville – Lemmy Caution gegen Alpha 60". Science-Fiction und Film Noir zugleich mit Eddie Constantine in der Hauptrolle.
In "Alphaville" werden die Menschen von Maschinen regiert. Gefühle sind verboten. Es ist ein Film von heute, der in der Zukunft spielt, sagt Godard. Gedreht wird 1965 im nächtlichen Paris in dem futuristischen Hochhausviertel La Defense auf sehr empfindlichem Filmmaterial. "Wir werden nichts sehen", stöhnt sein Kameramann. Godard hingegen sagt, es sei ein Film über "Licht."
Filmszene aus "Alphaville": Eddie Constantine und Anna Karina Characters als Charaktere in "Alphaville" Lemmy Caution und Natacha von Braun.
Eddie Constantine und Anna Karina in "Alphaville".© imago / Mary Evans Archive / Cinetext Bildarchiv
Der Film gewinnt einen Goldenen Bären auf der Berlinale und der Filmemacher Jean-Luc Godard ist auf dem besten Weg, eine Legende zu werden.

Politische Agitation Ende der 1960er-Jahre

Verkehrsnachrichten, die drei Jahre zuvor in seinem Film "Eine verheiratete Frau" aus dem Radio dringen, sind 1967 Ausgangspunkt für Godards für lange Zeit letzten Spielfilm: "Weekend". Apokalyptische Szenarien verunglückter Autos und Verkehrstote, hysterische Menschen, blutüberströmte Verletzte sind zu sehen. Der Film endet mit einer Szene im Wald im Tabubruch des Kannibalismus. Die Frau isst ihren Mann.
"Ich mache jetzt keine Filme mehr. Sie müssen sich bei jemand anderem Arbeit suchen", sagt Godard zu seinem Team nach Ende der Dreharbeiten von "Weekend". Nach "Weekend" beginnt Godards politisch-militante Phase. Die Zeit der sogenannten "unsichtbaren Filme". Was schon in "La Chinoise" erstmals zu sehen war, tritt endgültig in den Vordergrund: Der Film wird für Godard zum Mittel im politischen Kampf, der auf die Erzählung fiktionaler Geschichten und auch auf Musik weitgehend verzichtet.
Godard möchte den Film jetzt als Waffe im politischen Kampf nutzen und bricht radikal mit der Filmindustrie, mit seinem Publikum und seinen enthusiastischen Kritikern. Mit Jean-Pierre Gorin, einem sozialistischen Theoretiker, gründet er die Gruppe Dziga Vertov. Kern der fünfköpfigen Gruppe sind Gorin und Godard. Dziga Vertov stellt ihre Filmarbeit in den Dienst des Klassenkampfes.
Es folgen die Cinétracts, kurze Filme, die nur auf Demonstrationen und in Fabriken vorgeführt werden. Sie erscheinen anonym, ohne dass der Name des Autors oder Regisseurs genannt wird. Aber viele der Wortspiele und Inserts in Godards späteren, stark mit Schrift durchsetzten Filmen werden hier ausprobiert.

Godards Rückkehr zum Kinofilm

In den 80er-Jahren findet Godard zum Kino zurück. Der Zeitpunkt ist äußerst günstig: Nach dem Wahlsieg der Linken ernennt François Mitterrand Jack Lang zum Kulturminister. Lang unterstützt den Autorenfilm, und der Name Godard verspricht Prestige.
Domiziana Giordano und Alain Delon in dem Film "Nouvelle Vague".
Domiziana Giordano und Alain Delon im Film "Nouvelle Vague".© imago / Mary Evans / AF Archive / Sara Films
Der Film, den Jean-Luc Godard 1990 auf der Pressekonferenz bei den Filmfestspielen in Cannes vorstellt, heißt "Nouvelle Vague". Mit Alain Delon und Domiziana Giordano in den Hauptrollen erzählt er eine Doppelgängergeschichte. Die Texte in Nouvelle Vague bestehen ausschließlich aus Zitaten, die Romanen entnommen sind. Kein einziges Wort stammt von Godard selbst. Der Text führt ein Eigenleben. Jean-Luc Godard trennt stilistisch das Bild vom Ton, der Ton bekommt eine Selbständigkeit. 2010 erhält Godard einen Ehren-Oscar für sein Lebenswerk.
Jean-Luc Godard 2002 während einer Filmvorlesung an der ETH in Zürich 2002.
2010 erhielt Jean-Luc Godard in Anerkennung seiner Verdienste um die Filmkunst einen Ehrenoscar.© picture alliance / dpa / Christof Schuerpf
2018, kommt der bislang letzte Godard-Film ins Kino: "Le livre d’image", "Bildbuch". Eine farbenprächtige, faszinierende und verstörende Reise in die Weltgeschichte der Menschheit mit ihren Kriegen, Zerstörungen, der Liebe, der Freiheit und den gesellschaftlichen Veränderungen

Godards Einfluss auf die Entwicklung des Films

Godards Filme sind und waren immer umstritten. Sie sind kein Kino, das kommerziell erfolgreich ist. Sie sind nicht einfach zu entschlüsseln. Man muss sie mehrmals ansehen und wird sie trotzdem nie ganz verstehen. Godards Werk hat Generationen von Filmemachern und Künstlern beeinflusst: Martin Scorsese, Steven Soderbergh, Quentin Tarantino, Jim Jarmusch und Christian Petzold, um nur einige Beispiele zu nennen. Auch die Regisseurin Chantal Akerman war sich sicher, dass sie Filmemacherin werden wollte, nachdem sie Godards "Pierrot le fou" gesehen hat.

Literatur:
Andreas Hamburger, Gerhard Schneider, Peter Bär, Timo Storck, Karin Nitzschmann (Hg.): Jean-Luc Godard: Denkende Bilder (Im Dialog: Psychoanalyse und Filmtheorie), November 2020

Bert Rebhandl: Jean-Luc Godard, Paul Zsolnay Verlag, Oktober 2020

Jürg Stenzl: Jean-Luc Godard – musicien: Die Musik in den Filmen von Jean-Luc Godard, edition text + kritik, Dezember 2010

Wiederholung aus dem Jahre 2021 anlässlich des Todes Jean-Luc Godards am 13. September 2022.
Das vollständige Skript zu dieser Langen Nacht finden Sie hier.
Eine Produktion von Deutschlandfunk Kultur/Deutschlandfunk 2021.
Filmgeschichte