Jean-Philippe Toussaint: "Der USB-Stick"
Aus dem Französischen von Joachim Unseld
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/Main 2020
190 Seiten, 22 Euro
Im Labyrinth der EU-Bürokratie
05:23 Minuten
Cyberkriminalität, digitale Kryptowährung und obskure Lobbyisten: Jean-Philippe Toussaint spielt in seinem Roman "Der USB-Stick" gekonnt mit allen Zutaten eines Polit-Thrillers. Doch dann kommt die Familie des Protagonisten ins Spiel.
Der belgische Autor Jean-Philippe Toussaint sucht in seinen Romanen die Balance zwischen Experiment und traditionellem Erzählen. Er mäandert zwischen den literarischen Genres, hat sich am Liebesroman und am Detektivroman versucht.
In seinem jüngsten Roman "Der USB-Stick" wechselt er abermals das Genre. Diesmal scheint es sich um einen politischen Thriller im Bereich der internationalen Cyber-Kriminalität zu handeln. Doch der erste Eindruck beim Lesen könnte sich auch als eine listige Täuschung des Autors erweisen, denn Toussaint liebt es seit jeher, Trugbilder zu erzeugen und mit den Erwartungen seiner Leser zu spielen, in diesem Fall mit den Erzählmustern des Polit-Thrillers.
Der Roman beginnt mit allen Anzeichen, einen gediegenen Plot entwickeln zu wollen. Er spielt in einem Milieu, das in der Gegenwartsliteratur eher selten vorkommt, wenn man von Robert Menasses Erfolgsroman "Die Hauptstadt" absieht – nämlich im Labyrinth der hohen Bürokratie der EU-Kommission in Brüssel. Und auch das Thema ist nicht abgegriffen, sondern frisch und aktuell. Es geht um die innovative Blockchain-Technologie zur Herstellung der digitalen Kryptowährung Bitcoin.
Diskrete juristische Beratung in Sachen Fördermittel
Der Held und Ich-Erzähler Jean Detrez arbeitet in leitender Position als strategischer Zukunftsforscher für die Europäische Kommission und befasst sich mit Quantencomputern und Cyber-Sicherheit, vor allem im Hinblick auf neue Krypto-Währungen. Eines Tages wird er von zwei obskuren Lobbyisten angesprochen. Die beiden wurden von einer bulgarischen Firma für Datenverarbeitung beauftragt, die einen Antrag auf Fördermittel bei der EU-Kommission eingereicht hat. Von Detrez erhoffen sie sich diskrete juristische Beratung, um dem Antrag ihres Klienten zum Erfolg zu verhelfen – was einem Korruptionsversuch gleichkommt.
Aus Neugier lässt sich Detrez auf mehrere klandestine Treffen mit den Lobbyisten ein, um mehr über ihre zwielichtigen Machenschaften zu erfahren. Wie es scheint, will die bulgarische Firma eine EU-Blockchain-Technologie entwickeln, als eigenständige europäische Antwort auf amerikanische und chinesische Unternehmen. Diese Blockchain-Technologie soll allerdings auf chinesischen Rechnern entwickelt werden. Das macht den Helden misstrauisch – zu Recht.
Bei einem dieser konspirativen Treffs in einem Brüsseler Hotel fällt einem der Lobbyisten ein USB-Stick aus der Tasche. Dieser Datenspeicher offenbart dem umgarnten Beamten Detrez einen groß angelegten Betrugsplan. Demnach geht es um Veruntreuung zu Lasten europäischer Strukturfonds: Korrupte bulgarische Politiker wollen EU-Fördergelder fürs Bitcoin-Mining ergaunern, auf einem noch unbekannten chinesischen Mining-Prototyp namens Alpha-Miner 88. Um dem Betrug auf die Spur zu kommen, beschließt Detrez, selbst nach China zu fliegen und sich auf der chinesischen Speicherfarm umzuschauen.
Ein tölpelhafter Held ohne große Konturen
Tatsächlich haben die Chinesen, wie Detrez herausfindet, auf ihrem Prototyp zur Herstellung von Bitcoins heimlich Spionage-Software installiert, eine so genannte "backdoor" zur Manipulation des Bitcoin-Handels. Der Roman bestätigt drastisch die möglicherweise vorhandenen Vorurteile argwöhnischer Leser, die osteuropäischen Politikern immer schon korrupte Machenschaften zu Lasten der EU und den Chinesen immer schon heimtückische cyber-kriminelle Angriffe auf "den Westen" zutrauten.
Bis hierher erzählt Toussaint in vielen überraschenden, aber nicht unplausiblen Wendungen ein ebenso spannendes wie horrendes Beispiel von EU-Betrug und Cyber-Kriminalität. Sein Protagonist Detrez erweist sich als typischer schräger Toussaint-Held – eine blasse, wenig konturierte und wenig zielstrebige Durchschnittsfigur ohne besondere Merkmale und Überzeugungen, aber mit einer Neigung zu unüberlegten Handlungen, die ihn zum Opfer skurriler Unfälle und Fehlleistungen machen. Einen Höhepunkt der Toussaintschen Ironie bildet das amüsante Kapitel über den blamablen Auftritt seines ungeschickten, tölpelhaften Helden in Tokio bei einem internationalen Blockchain-Kolloquium.
Doch dann scheint der Autor das Interesse an seinem Plot zu verlieren. Der Roman biegt ab und wendet sich der dysfunktionalen Familiengeschichte des Helden zu, Anlass ist der Tod seines Vaters. Damit werden die Erwartungen der meisten Leser an eine befriedigende Auflösung des Thriller-Plots vermutlich enttäuscht werden.
Einem unterhaltsamen und intelligenten Roman wird ein etwas flaues Ende bereitet. Ein kleiner, schaler Nachgeschmack bleibt.