Jean-Pierre Wils: "Sich den Tod geben. Suizid als letzte Emanzipation?"
Hirzel, Stuttgart 2021
200 Seiten, 24 Euro
Auch der Freitod braucht Grenzen
06:49 Minuten
Jean-Pierre Wils hat lange für selbstbestimmtes Sterben geworben, doch das entsprechende Urteil des Bundesverfassungsgerichts sieht er skeptisch. Der Philosoph warnt davor, den Tod zum authentischen Projekt im Sinne einer letzten Emanzipation zu stilisieren.
Im Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht ein überraschendes Urteil zur Sterbehilfe gefällt: Es erklärte den Paragrafen 217 StGB, der die "geschäftsmäßige" Beihilfe zur Selbsttötung unter Strafe stellt, für verfassungswidrig. Dem Parlament wurde daraufhin eine Neuregelung zum assistierten Suizid in Auftrag gegeben. Seitdem wird wieder heftig über Sterbehilfe gestritten, das Thema ist moralisch enorm aufgeladen.
Während konservative Stimmen eine Liberalisierung der Sterbehilfe als Untergang des christlichen Abendlands sehen, propagieren Befürworterinnen und Befürworter den Freitod und die Beihilfe dazu als letzten emanzipatorischen Akt eines selbstbestimmten Lebens. Beide Positionen blenden die Tragik und das Leid aus, die ein Sterbewunsch grundsätzlich mit sich bringt. Umso wichtiger, dass nun ein Buch zum Thema zu Innehalten und Demut auffordert.
Gegen Dogmatismus und Bevormundung
In den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich der Philosoph und Theologe Jean-Pierre Wils dafür eingesetzt, Sterbehilfe nicht länger unter Strafe zu stellen. Eine Liberalisierung des assistierten Suizids verkörpert für ihn eine legitime Emanzipation in Todesangelegenheiten.
Zu lange, meint er, hätten kirchlicher Dogmatismus und ärztlicher Paternalismus die Sterbenden bevormundet. "Gezwungen zu werden, anders zu sterben, als man will, widerspricht der Menschenwürde. Solange wir die Selbsttötung in freier Entscheidung wollen können, muss sie respektiert werden."
Sein jüngstes Buch "Sich den Tod geben. Suizid als letzte Emanzipation?" hält an dieser Grundüberzeugung fest, zeigt sich jedoch sehr skeptisch angesichts der jüngsten Entwicklungen. Wils hinterfragt hier die Redeweise vom "guten Sterben" als Ideologie, die nicht nur dazu neige, die Schwere des Geschehens zu unterschätzen, sondern Menschen auch angesichts ihres bevorstehenden Todes dazu zwinge, möglichst optimal Abschied zu nehmen. Er warnt vor einem Verzicht auf einschränkende Sterbehilfekriterien und analysiert, welche Folgen eine Normalisierung des assistierten Suizids für unsere Gesellschaft hätte.
Urteil des Bundesverfassungsgerichts
So heftig auch um die Art gestritten wird, wie wir aus dem Leben scheiden, so eindeutig ist laut Jean-Pierre Wils die Richtung, in die wir uns bewegen – nämlich in Richtung einer Liberalisierung der Sterbehilfe. Die Zustimmung sei in den vergangenen Jahren stark gestiegen, die Mehrheit der deutschen Bevölkerung betrachte die Hilfe zur Selbsttötung – im Gegensatz zur Tötung auf Verlangen – als einen eher unproblematischen Vorgang. In der Medizin sind die Meinungen offenbar noch sehr geteilt, unter Juristinnen und Juristen ebenfalls, wobei auch in diesen Berufsgruppen die Akzeptanz deutlich zugenommen habe.
Das Grundsatzurteil von 2020 hält der Philosoph für überraschend radikal und einseitig. Aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht in Verbindung mit der Menschenwürde-Formel der Grundgesetz-Präambel leitet das Bundesverfassungsgericht nichts weniger als ein "Recht auf selbstbestimmtes Sterben" ab.
Mehr noch: Materielle Kriterien, welche die persönliche Autonomie begrenzen könnten, lässt es nicht gelten. Das Recht, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, ist also nicht auf unheilbare Krankheiten oder unerträgliches Leid, auf bestimmte Motive und Ursachen beschränkt, sondern besteht in jeder Phase menschlicher Existenz.
Damit geht das Bundesverfassungsgericht weit über die Regelung in jenen Ländern hinaus, in denen Sterbehilfe schon länger liberalisiert ist. Sowohl in der Schweiz als auch in den Niederlanden ist Sterbehilfe im Prinzip strafbar – außer sie erfolgt auf Basis bestimmter Sorgfaltskriterien. So muss zum Beispiel ein aussichtsloses und untragbares Leiden dem Sterbewunsch zugrunde liegen.
Ein Suizid, um niemandem zur Last zu fallen
Im deutschen Urteil steht dagegen die Autonomie des Einzelnen im Fokus sämtlicher Abwägungen. Dass das Bundesverfassungsgericht ein "Recht auf selbstbestimmtes Sterben" nicht auf bestimmte Motive, Ursachen oder Lebensphasen beschränkt, wird nach Überzeugung von Wils zu einer Liberalisierung und damit letztlich auch zu einer Normalisierung der Sterbehilfe in Deutschland führen. Sein Buch zeigt eindrücklich auf, welche Konsequenzen eine solche Entwicklung für unsere Gesellschaft haben könnte.
Sieht eine Gesellschaft den assistierten Suizid als einen normalen und vernünftigen Weg an, aus dem Leben zu scheiden, so könnte, befürchtet der Autor, bei alten und kranken Menschen der Druck entstehen, von dieser Option Gebrauch zu machen, um Angehörigen nicht zur Last zu fallen. Der Fokus auf die autonome Entscheidung des Einzelnen blende zudem den sozialen Kontext des Sterbewilligen aus. Ein selbst gewählter Tod ist Wils Meinung nach immer verstörend und mit einer komplizierten Trauer für die Angehörigen und Freunde verbunden.
Der Tod als scheinbar authentisches Projekt
Was einen Freiheitsgewinn darstellt, bedeutet also zugleich den Verlust einer Selbstverständlichkeit: das Warten auf den Tod. Denn eine Legalisierung hat laut Wils auch zur Folge, dass sich in Zukunft jeder Mensch – ob Befürworter oder Verweigerer – überlegen und zumindest vor sich selbst rechtfertigen muss, ob er unter diesen Umständen Sterbehilfe in Anspruch nehmen möchte oder nicht. So wird jedes Weiterleben zwangsläufig zum Ergebnis einer Entscheidung.
Das Buch des Ethikers warnt vor einer Ideologie, die eine Selbstoptimierung der eigenen Biografie noch im Sterben propagiert und den Tod zum authentischen Projekt im Sinne einer letzten Emanzipation stilisiert. Vor allem aber plädiert Jean-Pierre Wils dafür, den assistierten Suizid nicht zu normalisieren, sondern ihn auf eine Situation zu beschränken, in der die Schmerzen und das Leid für die betroffene Person untragbar geworden sind.