"Countrymusic ist kein Genre"
Mit seiner Band "The Fellow Travellers" mischte Jeb Loy Nichols schon zu Beginn der 90er-Jahre Country mit Reggae. Zu seinem neuen Soloalbum "Country Hustle" erklärt Nichols: "Ich wollte eine Platte machen mit befreiter Tanzmusik, denn Tanzen ist ein politischer Akt".
Martin Böttcher: Mr. Nichols, würden Sie sich als Veteran, vielleicht gar als Überlebender des Musikbusiness bezeichnen?
Jeb Loy Nichols: Wahrscheinlich bin ich sowas wie ein Überlebender. Meine Ambitionen sind einfach nicht allzu groß, insofern fällt die Enttäuschung auch nicht so groß aus. Ich mache, worauf ich Lust habe, und denke nicht allzu viel darüber nach. Aber nach all den Jahren bin ich wohl wirklich ein Überlebender.
Martin Böttcher: Was hat Sie denn so lange durchhalten lassen?
Jeb Loy Nichols: Ich erinnere mich noch, wie ich mal den britischen Produzenten Adrian Sherwood gefragt habe: Adrian, Du bist immer so beschäftigt! Und er hat geantwortet: Ach, man ist halt 16 Stunden am Tag wach, und die wollen gefüllt werden. Und so geht es mir auch: Ich wache auf, und denke: Ach, heute mache ich Musik, oder ich mache Kunst, oder schreibe was.
Martin Böttcher: Aber gibt es auch etwas, das Sie mit Ihrer Musik erreichen wollen?
Jeb Loy Nichols: Ich möchte den großen Musikern des Country-Soul meinen Respekt bezeugen. Ich bin mit diesem Crossover aus Country und Soul aufgewachsen, und natürlich mit Hiphop. Und ich möchte mit meiner Musik zeigen, dass Country nicht dieser fürchterlich langweilige, hässliche konservative Kosmos ist, sondern so viel mehr.
"Ich glaube überhaupt nicht an irgendeine Form von Gerechtigkeit"
Martin Böttcher: Denken Sie nicht trotzdem manchmal: Die Welt ist ungerecht, Sie haben all diese Fähigkeiten, all dieses Können, und sind trotzdem immer noch ein Geheimtipp?
Jeb Loy Nichols: Ich glaube überhaupt nicht an irgendeine Form von Gerechtigkeit, und ich finde auch nicht, dass es die geben sollte. Die Welt ist viel zu chaotisch, auch in der Natur gibt es keine Gerechtigkeit. Es gibt so viele Leute, die großartige Platten aufgenommen, große Bücher geschrieben, und nie die verdiente Aufmerksamkeit dafür bekommen haben. Ich bin sehr glücklich über den bescheidenen Erfolg, den ich habe.
Martin Böttcher: Sie sind Amerikaner, leben aber in Wales – leben Sie von der Musik, oder haben Sie noch ein zweites Standbein?
Jeb Loy Nichols: Ich bin nach Wales gezogen mit dem Ziel, arm zu sein. Aber ich lebe nicht nur von der Musik, sondern auch von meinen Ausstellungen als Künstler, und ich schreibe Romane. Und davon kann ich gewissermaßen meine Armut aufrechterhalten.
Martin Böttcher: Ist Wales denn ein guter Ort, um arm zu sein?
Jeb Loy Nichols: Es ist ein fantastischer Ort, um arm zu sein! Das Leben dort ist sehr billig, und keiner sonst will dort leben, also können wir dort machen, was wir wollen.
"Ich versuche, abseits des Konsumismus zu leben"
Martin Böttcher: Finden Sie da auch die Themen für Ihre Songs?
Jeb Loy Nichols: Ja, die meisten Themen entstammen doch unserer Lebensweise. Ich versuche ja vor allem, abseits des Kapitalismus, abseits des Konsumismus zu leben. Das ist übrigens für mich das Traurige an Hiphop: Dass er so früh vom Streben nach Erfolg, nach Macht und Geld verführt wurde. Und ich wünsche mir wirklich ein Leben, in dem das keine Rolle spielt. Und das kann ich in Wales, und natürlich schreibe ich auch über dieses Leben.
Martin Böttcher: Sie waren oft dort, wo "es" gerade passierte: Sie haben die Sex Pistols live in Texas gesehen, später haben Sie in London mit Neneh Cherry und Ari Up von den Slits zusammen gewohnt. In New York haben Sie Fela-Kuti-Platten an David Byrne verkauft, kurz bevor der mit den Talking Heads afrikanische Polyrhythmen in den New Wave brachte. Das alles ist lange her – waren das musikalisch aufregendere Zeiten als heute?
Jeb Loy Nichols: Nicht für mich. Es waren sehr aufregende Zeiten, musikalisch, die Sex Pistols haben mich als Sechzehnjährigen extrem beeindruckt, und dann bin ich nach New York gegangen, wo ich die frühe Hiphop-Szene mitbekommen habe, auch äußerst aufregend! Es gab viel tolle Musik, aber jetzt gerade haben wir doch auch jede Menge aufregender Sachen, denken Sie an Kendrick Lamar, die House- und Elektro-Musikszene, oder Erykah Badu, oder die Musik, die jetzt aus Afrika zu uns kommt, Bands wie Tinariwen...
Es ist eine sehr spannende Zeit für Musik, und es ist doch großartig, wie viel Musik sich heute verbreitet, die nicht-kommerziell ist, die unter dem Radar läuft, wo die Leute machen, was sie wollen, und trotzdem ein Publikum erreichen.
Martin Böttcher: Haben Sie damals auch gelernt, dass Genreschubladen langweilig sind? Sie machen ja eigentlich genau das, was Ihnen gefällt, und lassen sich in keine Schublade stecken.
Jeb Loy Nichols: Einerseits sind Schubladen langweilig, andererseits ist Musik, die sehr ihrem Genre entspricht, oft großartig: Denken Sie an reinen Hiphop, oder an Hank Williams als Country in seiner Reinform, das kann ganz toll sein.
Aber ich bin mit Leuten wie Bobby Womack oder Al Green aufgewachsen, Southern Soul, dieser Mischung aus Soul und Country, das hat mich irgendwie auf meine Zeit in New York vorbereitet, wo Stile gemischt wurden, und auf meine Zeit auf Jamaika, wo ich feststellen musste, dass Country dort viel wichtiger ist als Reggae.
"Tanzen ist ein politischer Akt"
Martin Böttcher: "Country Hustle", Ihr neues Album, hat tolle Songs, auch eine tolle Coverversion von Luther Vandross‘ Disco-Stück "Never Too Much" ist darauf zu finden. Gibt es so etwas wie eine Botschaft, einen roten Faden auf Ihrer Platte?
Jeb Loy Nichols: Ich wollte zwei Sachen mit dieser Platte erreichen: Ich wollte klar machen, dass Countrymusic kein Genre ist. Countrymusic ist Musik, die von Leuten gemacht wird, die auf dem Land leben. Darum kann Countrymusic meiner Meinung nach genauso gut auch aus Afrika oder aus Deutschland kommen.
Und ich wollte eine Platte machen, die ich selbst gerne hören möchte – und zwar mit Tanzmusik. Mit befreiter Tanzmusik, denn Tanzen ist ein politischer Akt. Heutzutage muss man keine Politik mit großem "P" machen, man kann sich auch anders politisch äußern, und diese anderen Äußerungen sind sehr wichtig.
(inh)