Jeder Hilferuf wurde erhört
Das Verhältnis der Schriftstellerin Brigitte Reimann zu ihren Eltern war von bedingungsloser Akzeptanz. Deshalb konnte sie ihnen auch ihre ständige Geldnot oder ihren hohen Alkohol- und Zigarettenkonsum mitteilen. Die exzessiven Schreibhandlungen ihrer Briefe wirken wie eine Therapie. Reimann verstarb 1973 im Alter von 39 Jahren in Ost-Berlin.
Nach der Veröffentlichung von Brigitte Reimanns Tagebüchern "Ich bedaure nichts" (1955-1963) und "Alles schmeckt nach Abschied" (1964-1970) und ihrer Briefkorrespondenz mit der Schriftstellerin Christa Wolf (1929), dem Architekten Hermann Henselmann (1905-1995) und der Jugendfreundin Veralore Schwirtz (1933) galt der intensive Lebensweg der charismatischen Schriftstellerin als bestens bekannt. Die Texte zeigen eine lebenshungrige und sinnliche Frau, die ihr privates Glück vergeblich in vier Ehen suchte und die als Schriftstellerin von einer unermesslichen Schreibwut erfüllt war.
Reimanns Tagebücher und Briefe sind Dokumente einer Zeit, die kein Geschichtsbuch authentischer vermitteln kann. Aus dem Nachlass wurden nun Brigitte Reimanns Briefe an ihre Eltern veröffentlicht, die sie von 1960 bis zu ihrem Tod 1973 geschrieben hat.
Das Jahr 1960 stellt im Leben Reimanns eine Zäsur in zweifacher Hinsicht dar. Während der geliebte Bruder Lutz in den Westen geht, um "ein zufriedener Bundesbürger zu werden" (24.9.60), zieht sie zusammen mit dem Schriftsteller Manfred Pietschmann (1930-2002) nach Hoyerswerda, um sich am Aufbau einer "sozialistischen Stadt" zu beteiligen. Diese Erfahrungen sind für den Roman "Franziska Linkerhand" (1974) von zentraler Bedeutung. Gemäß den städtebaulichen Vorstellungen der DDR wurde erstmals in Großblock- und Plattenbauweise gebaut. Nördlich von Hoyerswerda war 1955 das Braunkohlenkombinat "Schwarze Pumpe" in Betrieb genommen worden, und es wurden dringend Arbeitskräfte gebraucht. Die Planung von Hoyerswerda sah zehn Wohnkomplexe mit tausenden Wohneinheiten vor.
Bereits am 12.1.1960 schreibt sie: "Ich kann mich wirklich für Hoyerswerda begeistern – aber zu Hause werde ich mich hier nie fühlen". "Hoy", wie sie die Stadt liebevoll nennt, wird zum Prüfstein in mehrfacher Hinsicht.
Brigitte Reimanns Verhältnis zu den Eltern ist innig und trotz vieler Meinungsverschiedenheiten von bedingungsloser Akzeptanz. "Ihr seid wirklich fabelhafte Eltern", schreibt sie am 20.1.70. Deshalb kann sie leidige Themen wie ständige Geldnot, kulturpolitische Schwierigkeiten, wirtschaftliche Engpässe und die täglichen Qualen einer Schriftstellerexistenz nebst Alkohol- und Zigarettenkonsum detailliert mitteilen. Jeder Hilferuf wird erhört. Die Briefschreiberin muss sich niemals verstellen und so wirken die exzessiven Schreibhandlungen wie eine Therapie.
Mit unerbittlicher Strenge fordert sie die Eltern auf, ihre Bücher zu lesen. "Die ‚Geschwister’ sind das Beste, was ich jetzt geschrieben habe", heißt es am 11.3.62, "und so lange Du, teuerste Frau Mu, mir bloß den Hintern versohlen willst, höre ich nicht auf, weiter daran zu schreiben. Freilich, wenn Du mir auch mit Enterbung drohst."
Mit ihrer schweren Krebserkrankung und dem hoffnungsvollen Umzug nach Neubrandenburg 1968 wird der Briefkontakt zu den Eltern zum seelischen Rettungsanker. Geplagt von grässlichen Schmerzen, die Spaziergänge zur Tortur machen, schreibt sie in einem der letzten Briefe: "Von einer Mutter umsorgt zu werden – darüber geht eben doch nichts."
Brigitte Reimanns Briefe an die Eltern sind eine ergreifende Lektüre. Dem Reimann-Kundigen erscheinen sie wie ein längst fälliger Kommentar zu der bislang veröffentlichten Korrespondenz. Gab es bereits mit den Briefen an eine "Freundin im Westen" ("Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf!", 1995) wertvolle Äußerungen zur politischen Entwicklung in der DDR während der 1950er Jahre, so sind diese Briefe Brigitte Reimanns aus den 1960er und 1970er Ausdruck einer kritischen Lebenssicht, in der Privates und Öffentliches gleichberechtigt nebeneinander existieren.
Rezensiert von Carola Wiemers
Brigitte Reimann: Jede Sorte von Glück - Briefe an die Eltern,
Aufbau Verlag 2008, 459 Seiten, 24,95 Euro.
Reimanns Tagebücher und Briefe sind Dokumente einer Zeit, die kein Geschichtsbuch authentischer vermitteln kann. Aus dem Nachlass wurden nun Brigitte Reimanns Briefe an ihre Eltern veröffentlicht, die sie von 1960 bis zu ihrem Tod 1973 geschrieben hat.
Das Jahr 1960 stellt im Leben Reimanns eine Zäsur in zweifacher Hinsicht dar. Während der geliebte Bruder Lutz in den Westen geht, um "ein zufriedener Bundesbürger zu werden" (24.9.60), zieht sie zusammen mit dem Schriftsteller Manfred Pietschmann (1930-2002) nach Hoyerswerda, um sich am Aufbau einer "sozialistischen Stadt" zu beteiligen. Diese Erfahrungen sind für den Roman "Franziska Linkerhand" (1974) von zentraler Bedeutung. Gemäß den städtebaulichen Vorstellungen der DDR wurde erstmals in Großblock- und Plattenbauweise gebaut. Nördlich von Hoyerswerda war 1955 das Braunkohlenkombinat "Schwarze Pumpe" in Betrieb genommen worden, und es wurden dringend Arbeitskräfte gebraucht. Die Planung von Hoyerswerda sah zehn Wohnkomplexe mit tausenden Wohneinheiten vor.
Bereits am 12.1.1960 schreibt sie: "Ich kann mich wirklich für Hoyerswerda begeistern – aber zu Hause werde ich mich hier nie fühlen". "Hoy", wie sie die Stadt liebevoll nennt, wird zum Prüfstein in mehrfacher Hinsicht.
Brigitte Reimanns Verhältnis zu den Eltern ist innig und trotz vieler Meinungsverschiedenheiten von bedingungsloser Akzeptanz. "Ihr seid wirklich fabelhafte Eltern", schreibt sie am 20.1.70. Deshalb kann sie leidige Themen wie ständige Geldnot, kulturpolitische Schwierigkeiten, wirtschaftliche Engpässe und die täglichen Qualen einer Schriftstellerexistenz nebst Alkohol- und Zigarettenkonsum detailliert mitteilen. Jeder Hilferuf wird erhört. Die Briefschreiberin muss sich niemals verstellen und so wirken die exzessiven Schreibhandlungen wie eine Therapie.
Mit unerbittlicher Strenge fordert sie die Eltern auf, ihre Bücher zu lesen. "Die ‚Geschwister’ sind das Beste, was ich jetzt geschrieben habe", heißt es am 11.3.62, "und so lange Du, teuerste Frau Mu, mir bloß den Hintern versohlen willst, höre ich nicht auf, weiter daran zu schreiben. Freilich, wenn Du mir auch mit Enterbung drohst."
Mit ihrer schweren Krebserkrankung und dem hoffnungsvollen Umzug nach Neubrandenburg 1968 wird der Briefkontakt zu den Eltern zum seelischen Rettungsanker. Geplagt von grässlichen Schmerzen, die Spaziergänge zur Tortur machen, schreibt sie in einem der letzten Briefe: "Von einer Mutter umsorgt zu werden – darüber geht eben doch nichts."
Brigitte Reimanns Briefe an die Eltern sind eine ergreifende Lektüre. Dem Reimann-Kundigen erscheinen sie wie ein längst fälliger Kommentar zu der bislang veröffentlichten Korrespondenz. Gab es bereits mit den Briefen an eine "Freundin im Westen" ("Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf!", 1995) wertvolle Äußerungen zur politischen Entwicklung in der DDR während der 1950er Jahre, so sind diese Briefe Brigitte Reimanns aus den 1960er und 1970er Ausdruck einer kritischen Lebenssicht, in der Privates und Öffentliches gleichberechtigt nebeneinander existieren.
Rezensiert von Carola Wiemers
Brigitte Reimann: Jede Sorte von Glück - Briefe an die Eltern,
Aufbau Verlag 2008, 459 Seiten, 24,95 Euro.