"Jeder kann Opfer werden"

Moderation: Andreas Müller · 28.03.2013
Fast 17 Jahre lang hat Wilhelm Heitmeyer das von ihm begründete Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in Bielefeld geleitet - jetzt wird er emeritiert. Ein Gespräch über Menschenfeindlichkeit, brutale Kopftreter und den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.
Andreas Müller: Wilhelm Heitmeyer ist Pädagoge und Soziologe, und sein Name steht für eine Forschungsrichtung, die er maßgeblich begründet hat und die uns alle angeht: die Gewalt. Über 15 Jahre lang hat Wilhelm Heitmeyer das von ihm begründete Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in Bielefeld geleitet, es ist eine Institution geworden, die der Chef jetzt demnächst an einen Nachfolger übergibt. Wilhelm Heitmeyer ist jetzt aus einem Studio in Bielefeld zugeschaltet. Schönen guten Tag!

Wilhelm Heitmeyer: Guten Tag!

Müller: Blicken wir kurz zurück, Herr Heitmeyer, auf das Jahr 1996, als Sie Ihr Institut gegründet haben. Was hat Sie dazu bewegt, wozu sollte die Einrichtung dienen?

Heitmeyer: Der Ursprung waren die Gewalttaten ‘92 auf dem Höhepunkt der Gewalt gegen Asylbewerber, gegen Migranten, und vorher waren wir gewissermaßen Feuerwehrforscher, also wir wurden gewissermaßen gerufen, wenn irgendwo etwas brannte, und dann wurden wir schnell wieder abgeknipst. Und das war eigentlich der Grund zu sagen, nein, wir müssen diese Forschung auf Dauer stellen. Dann hat es aber, wie das in den Hochschulen nicht unüblich ist, fünf Jahre gedauert bis zur Gründung ‘96.

Müller: Und jetzt, fast 17 Jahre später – was glauben Sie bewirkt zu haben?

Heitmeyer: Nun, das ist immer schwierig, das können die Außenstehenden natürlich besser beurteilen, aber ich glaube schon, dass wir erstens sehr früh mit unseren Forschungsthemen waren – schon Mitte der 80er-Jahre haben wir zum Rechtsextremismus bei Jugendlichen geforscht, zu den Hooligans, und damals ist uns sehr viel an Kritik entgegengeschallt, weil man nicht glauben konnte, dass wir es in Zukunft mit rechtsextremistischen Orientierung bei Jugendlichen oder auch Bewegungen zu tun hätten. Und auch bei der Gewalt in den Fußballstadien haben uns Bundesligavereine doch ziemlich beschimpft.

Mitte der 90er-Jahre waren wir sehr früh mit einer empirischen Untersuchung zu islamistischen, fundamentalistischen Einstellungen bei türkischen Jugendlichen, und auch dort haben wir sehr viel Kritik erfahren. Das heißt, wir waren früh mit diesen Themen und haben das dann auch immer wieder auf die Agenda gebracht, auf die öffentliche Agenda, und dazu gehört natürlich auch diese Langzeitstudie zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, und diese Untersuchung, weil sie zehn Jahre jedes Jahr lief, ist sehr bekannt geworden, und ist auch eingesickert in die öffentlichen Debatten.

Müller: Die Schriftenreihe "Deutsche Zustände", die ab 2002 im Jahrestakt erschien, jeweils mit großer öffentlicher Resonanz, dabei entwickeln Sie vor allem Strukturen, Resonanzräume, Soziotope, wo Ansätze zur Gewalt sich formieren. Wie viel klüger sind wir, wie viel klüger sind Sie dadurch geworden?

Heitmeyer: Natürlich habe ich im Laufe der Zeit auch vieles gelernt und auch lernen müssen. Gleichzeitig haben wir aber immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass es auch immer wieder Formwandel von Gewalt gibt, auch Formwandel von Rechtsextremismus. Und da erleben wir derzeit eigentlich eine ganz merkwürdige Diskussion, denn obwohl der parteiförmige Rechtsextremismus wie die NPD im Absprung begriffen ist – die NPD verliert Wähler, verliert Mitglieder und ist faktisch pleite, und trotzdem fokussiert die öffentliche Debatte sich darauf, während der bewegungsförmige Rechtsextremismus sehr viel gefährlicher ist, das heißt, die freien Kameradschaften, die autonomen Nationalisten. Aber die politische Klasse nimmt das offensichtlich gar nicht ernst und gar nicht wahr. Und das wird uns noch gewaltig auf die Füße fallen.

Müller: Das sind ja greifbare Gruppen, die Sie da gerade genannt haben, es gab auch eine Studie von 2005 oder eine Untersuchung, damals haben 61 Prozent bei einer Befragung mit ja auf die Frage geantwortet: Leben in Deutschland zu viele Ausländer? Was hat dieses erschreckende Ergebnis eigentlich für Folgen gehabt?

Heitmeyer: Nun, in der Regel ist es ja so, dass in den politischen Klassen sich da nicht viel regt. Nur man muss immer wieder sagen, diese Einstellungsmuster in der Bevölkerung dienen auch zur Legitimation für rechtsextreme Gruppen. Das heißt gleichzeitig auch, wir, also die Bürger, die solche Einstellungen haben, können uns nicht einfach auf das Bild verlassen, dort sind die brutalen Rechtsextremisten, und auf der anderen Seite ist die humane, soziale Gesellschaft, wir haben damit nichts zu tun – nein. Wir schaffen Legitimation auch für die Rechtsextremen, wenn wir solche Einstellungen wiedergeben.

Müller: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit dem Gewalt- und Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer. Sie, Herr Heitmeyer, sind in den 1950er-Jahren aufgewachsen. Wenn Sie da zurückblicken, wie hat sich das allgemeine Verhältnis der Gesellschaft zur Gewalt verwandelt oder gewandelt?

Heitmeyer: Ja, das ist eine beliebte Frage, die in den Medien immer wieder gestellt wird, und vor allem natürlich auch die Frage, nimmt das zu, nimmt das ab – das ist sehr schwierig zu beantworten. Bei der Gewaltkriminalität ist es zum Teil ja zunehmend, aber das, was uns besonders heute Sorgen machen muss, das ist die expressive Gewalt. Wir unterscheiden ja immer instrumentelle Gewalt, also wenn es darum geht, ein Handy abzunehmen oder eine Handtasche und dergleichen mehr. Bei der expressiven Gewalt geht es gar nicht darum, sondern da geht es um das Gefühl der Gewalt selbst, und das große Problem ist, dass man sich gegen expressive Gewalt kaum wehren kann.

Jeder kann Opfer werden, während bei der instrumentellen Gewalt kann man bestimmte Orte, bestimmte Zeiten vermeiden. Und diese expressive Gewalt ist dann eingebettet bei den Tätern in diese Spannung von alltäglicher Ohnmacht und der Versuchung, eine Machtdemonstration zu vollziehen – denken Sie nur an die berühmt-berüchtigten Kopftreter, obwohl jeder – gerade auch bei den jungen Menschen – weiß, wie gefährlich das ist, trotzdem kommt das immer wieder vor. Und ich habe den Eindruck, dass es gerade in einer Gesellschaft, die sehr stark auf Konkurrenz ausgerichtet ist, dann auch darum geht, über Gewalt Durchsetzung zu demonstrieren, also Macht auszuüben.

Müller: Also expressive Gewalt ist das, was einem passieren kann, wenn man in der U-Bahn, S-Bahn angegriffen wird, ist es damit gemeint? Ist das auch etwas Neues, eine neue Qualität?

Heitmeyer: Nun, eine neue Qualität insofern, dass wir ja inzwischen wissen, dass die Täter häufig in Gruppen auftreten und dann auch ein Gruppenbewusstsein haben, während die anderen, die dort mitfahren, eben gerade dieses Gruppenbewusstsein nicht haben und es eine Verantwortungsdiffusion gibt. Das ist natürlich ein ziemliches Problem.

Müller: Sie haben das gerade angedeutet, was hinter dieser – wie Sie es nennen – Machtdemonstration steht, also der Überfall in der U-Bahn, die Gewalttaten werden immer brutaler, grenzenloser. Gibt es da noch weitere Zusammenhänge für diese Entwicklung? Wo sind die Ursachen?

Heitmeyer: Ja, wir arbeiten ja in Bielefeld seit vielen Jahren mit einer Theorie sozialer Desintegration, das heißt, dass für bestimmte Gruppen die gesellschaftliche Integration – und damit sind überhaupt nicht die Migranten gemeint, Integration ist nicht reserviert für Migranten, sondern auch Teile der sogenannten Mehrheitsgesellschaft sind nicht integriert, das heißt, dort gibt es dann immer deutlicher für bestimmte Gruppen Anerkennungsdefizite, und das kann man bei Jugendlichen besonders sehen. Diejenigen, die in der gesellschaftlichen Frage, also über Arbeitsplätze, über öffentliche Teilhabe oder durch stabile soziale Verhältnisse in Familien et cetera keine oder nur geringe Anerkennung erfahren, die suchen an vielen Stellen die Anerkennung in der Binnengruppe, also bei den Peers, bei den Gleichaltrigen.

Und da ist solch eine Anerkennung auch über Gewalt immer noch besser als gar keine Anerkennung, in der subjektiven Wahrnehmung. Und von daher muss diese Gesellschaft sich dringend überlegen, wie sie in Zukunft mit Anerkennungsdefiziten bei bestimmten Gruppen umgeht und sich auf eine andere Weise eine neue Kultur der Anerkennung entwickeln lässt. Nur, ich habe die Befürchtung, in einer auf Konkurrenz getrimmten Gesellschaft wird Anerkennung eher verknappt, als über neue Formen nachzudenken.

Müller: Das klingt auch so, als würde man singulär gar nicht ansetzen können, dass ist also eine sehr, sehr große Aufgabe für die Mehrheitsgesellschaft.

Heitmeyer: Ja, dazu müssten auch Debatten, öffentliche Debatten, inszeniert werden, damit man darüber nachdenkt, ich sehe aber diese Debatten überhaupt nicht, sondern es geht dann eher um die Aufrüstung an Sicherheitsdenken, das heißt, es gibt dann möglicherweise eine Umsteuerung von sozialer Sicherung auf öffentliche Sicherheit, und das wird uns, glaube ich, nicht bekommen – zumal dann nicht, wenn es in Zukunft immer weniger zu verteilen gibt, und von daher diese Gruppenauseinandersetzungen möglicherweise zunehmen werden.

Müller: Im Sommer werden Sie das Institut verlassen, Sie werden emeritiert. Welche Pläne haben Sie? Machen Sie vielleicht mal was anderes jetzt, als weiter in Sachen Gewalt und Konflikten zu forschen?

Heitmeyer: Ja, das ist dann schon etwas schwierig, mit 68 was völlig Neues zu beginnen. Ich werde sicherlich in dem Feld weiter arbeiten, wahrscheinlich nicht mehr an der Universität Bielefeld, sondern an einer anderen Universität. Das muss man mal sehen. Es wird ein Gewaltthema sein, das Thema: Kehren gewaltsame, soziale Unruhen in moderne Gesellschaften zurück, wenn es nichts mehr zu verteilen gibt? Und die Vorboten sehen wir ja durch die Krisen im Euroraum, wenn Sie mal nach Griechenland sehen, wenn Sie sich Verhältnisse etwa in Ungarn ansehen, die zum Teil auch mit rechtsextremen Bewegungen dann verbunden sind. Darum werde ich mich in Zukunft stärker kümmern.

Müller: Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer hat die Gewalt- und Konfliktforschung in Deutschland auf einen neuen Stand gebracht in seinem Bielefelder Institut, das er bald verlässt. Vielen Dank, Herr Heitmeyer, für dieses Gespräch!

Heitmeyer: Bitte sehr!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema