"Jeder Mensch ist ein vielschichtiges Wesen"
Nach Recherchen der Historikerin Annette Leo war der DDR-Schriftsteller Erwin Strittmatter während des Zweiten Weltkriegs an Gewaltaktionen gegen slowenische Partisanen direkt beteiligt. Von Verdikten jeglicher Art halte sie jedoch nichts. Jeder Mensch "hat positive Eigenschaften und dunkle Seiten".
Stephan Karkowsky: Der Germanist Werner Liersch brachte es an den Tag: 2008 deckte er auf, Erwin Strittmatter, der über Jahrzehnte gefeierte DDR-Schriftsteller, habe während des Zweiten Weltkrieges in einer SS-Polizeieinheit gedient. Das Regiment bekämpfte dem Vernehmen nach Partisanen in Slowenien und Griechenland, und das wenig zimperlich. Wenn das stimmte, hatte Strittmatter es offensichtlich verschwiegen. Der Öffentlichkeit, der Familie, selbst den eigenen Tagebüchern. Die Berliner Historikerin Annette Leo setzte sich auf die Spur und legt heute eine Biografie vor, die aus Gerüchten Wahrheit machen soll. Guten Tag, Frau Leo!
Annette Leo: Guten Tag!
Karkowsky: Konnten Sie Beweise finden für diese Vorwürfe von Werner Liersch?
Leo: Ja, Werner Liersch hat ja selber schon Belege dafür gefunden. Nicht zuletzt und vor allem in den Selbstaussagen von Erwin Strittmatter in seiner SED-Kaderakte. Insofern ging es jetzt darum, nach dieser sehr polarisierenden Diskussion, die daraufhin dann entbrannt war, also ungefähr, die Verteidiger haben gesagt hoch mit Strittmatter und wir lassen uns dieses Bild nicht kaputtmachen, und die anderen nieder, wieder ein neuer Fall von Verschweigen und also verschwiegenem Verbrechen. Also, da ging es jetzt darum, den jetzt irgendwie einzuordnen und in den Kontext zu stellen und natürlich auch weitere Belege dafür zu finden. Ich habe die Belege, viele Beweise dafür, das, was Werner Liersch, im Wesentlichen, was Werner Liersch schon dargelegt hat, habe ich gefunden, unter anderem also im SED-Archiv, auch im Bundesarchiv, in den Teilen, die sich also mit Polizeibataillonen und Kriegsgeschichte beschäftigen, aber vor allen Dingen, was die persönliche Beteiligung von Strittmatter an diesem Krieg betrifft, habe ich die Briefe sehen können, die er damals in dieser Zeit an seine Eltern und Geschwister geschrieben hat. Und das ist natürlich …
Karkowsky: … wie bewerten Sie das denn als Historikerin, persönliche Briefe, die ein Soldat von der Front schreibt? Wie viel Wahrheitsgehalt steckt da drin?
Leo: Na ja, also, das ist wie in allen Selbstaussagen, sind das auch natürlich nur Teilwahrheiten. Und dann muss man da in Bezug auf die Kriegszeit hinzusetzen, dass es sicher auch eine Art Zensur gegeben haben muss. Allerdings ist das wohl in den ersten Monaten des Einsatzes dieses Polizeibataillons dort in Slowenien, kann das nicht sehr viel Zensur gegeben haben, denn er berichtet recht freimütig von Einsätzen. Natürlich gefärbt auch aus diesem Wunsch also vor den Eltern, vor allem vor dem militärbegeisterten Vater irgendwie eine besonders gute Figur zu machen, also, da muss man natürlich auch noch ein paar kleine Abstriche machen. Aber im Wesentlichen schreibt er dort, was seine Mannschaft dort tun muss.
Und er schreibt es nicht uneingeschränkt jetzt sich identifizierend, sondern er hat auch seine Zweifel, seine Zwiespältigkeiten. Und erst als es anfängt, dass er gelobt wird für seine Taten, dass er also zu Sonderaktionen eingeteilt wird, da geht auch der Stolz mit ihm durch. Und zeitweilig hat er diese Zwiespältigkeiten und Zweifel, die er am Anfang durchaus hatte, weil er gesehen hat, also, wie die Leute dort bedrückt werden von der deutschen Besatzung, und wie sie auch diese deutschen Besatzer hassen, das hat er dann zum Teil verloren und er geht dann ganz auf in diesem Erfolg, den er da plötzlich hat.
Karkowsky: Sie gleichen das dann ab mit anderen Quellen, die beschreiben wie mörderisch dieses dritte Bataillon des SS-Polizeigebirgsjägerregiments war. Heißt das, dass Strittmatter an diesen Mordaktionen eben auch teilgenommen hat?
Leo: Also, bei mindestens zwei solchen Aktionen ist es klar, dass er dabei war. Das beschreibt er in einem Brief, das ist eine Aktion, die sich um das Dorf Drazgose abgespielt hat, und zwar war das im Januar 1942. Und da beschreibt er das ganz genau, was passiert ist, und dadurch, dass er den Namen auch nennt, konnte ich natürlich auch in slowenischen Quellen da nachlesen, was ist in Drazgose passiert. Und das ist eine der größten Kampfaktionen zwischen Partisanen und den Polizeieinheiten gewesen. Und es gibt ein erhaltenes Kriegstagebuch einer anderen Polizeieinheit, die ebenfalls daran teilgenommen hat, und dieser Major Kissel, der das alles minutiös aufschreibt, der schreibt auch, welche anderen Einheiten daran beteiligt waren, und das war auch das Bataillon 325. So hieß es ja vorher, bevor es in dieses Regiment Nummer 18 integriert wurde.
Karkowsky: Hatte Strittmatter nicht immer behauptet, er habe im Krieg keinen einzigen Schuss abgegeben?
Leo: Ja, das hat er behauptet. Das ist eine der wenigen Aussagen, die er überhaupt gemacht hat über den Krieg. Und das kann man nun also wirklich widerlegen. Also, er ist, in diesem Kampf um Drazgose ist er Schütze zwei am Leichtmaschinengewehr, das schreibt er seinen Eltern. Und der Schütze zwei, der schafft immer die Munition ran und der andere legt sie ein. Aber ich meine, das ist dann schon eine sehr beschönigende Vorstellung, dass dann aus dem eigenen Gewehrlauf keine Kugel gekommen ist, wenn man da an so einem ratternden Maschinengewehr gesessen hat. Und er schreibt dann auch ganz deutlich, es musste Artillerie eingesetzt werden, weil wir das Dorf so nicht nehmen konnten, wir mussten uns zurückziehen, am nächsten Tag nahmen wir es endlich und brannten es nieder. Also, da identifiziert er sich total damit, also mit dieser Niederbrennungsaktion. Allerdings sind danach dann, zwei Tage später, in diesem Dorf Drazgose alle männlichen Bewohner über 15 Jahren erschossen worden. Das geht nicht daraus hervor, aus den Dokumenten, a) ob seine Einheit an diesen Erschießungen auch beteiligt gewesen ist, und b) natürlich auch nicht, dass er persönlich da ein Gewehr in der Hand gehalten hat. Aber wir können heute wirklich davon ausgehen, dass er dieses Geschehen erlebt hat, gesehen hat und dass er dabei war!
Karkowsky: Sie hören die Berliner Historikerin Annette Leo über ihre Strittmatter-Biografie, die sie heute vorgelegt hat. Frau Leo, es wurde auch darum gestritten, ob Strittmatter denn selber Mitglied der Waffen-SS war. Man weiß, dass dieses Polizeiregiment den Ehrentitel – aus heutiger Sicht klingt das pervers –, diesen Ehrentitel "SS" erst später bekommen hat, aber bei Ihnen erfährt man zum Beispiel auch, dass Strittmatter selbst freiwillig einen Aufnahmeantrag gestellt hat für die Waffen-SS und auch angenommen wurde.
Leo: Ja, dieses Dokument also dieses Aufnahmeantrags, das gibt es im Bundesarchiv, das kann also heute jeder sehen und sich auch gegebenenfalls kopieren. Das ist vollkommen frei, das ist auch schon, bevor meine Biografie erschienen ist, war das auch schon bekannt. Allerdings wusste man immer nicht: Ist er nun Mitglied geworden oder blieb das bei diesem Antrag? Jetzt geht es aber aus seinen eigenen Briefen zweifelsfrei hervor, dass er zwar für tauglich befunden wurde. Er hat sich freiwillig im Februar 1945, nein, im April 1945 hat er sich dort gemeldet und er ist für tauglich befunden worden, aber die Zellwollfabrik, in der er damals arbeitete und die ja so kriegswichtig, für kriegswichtig erachtet wurde, hat ihn also reklamiert als unabkömmlich. Und er ist dann, hatte sich gleichzeitig auch bei der Wehrmacht beworben als Freiwilliger und bei der Polizei.
Karkowsky: Die Motive sind vielleicht noch ganz wichtig, Sie schreiben auch etwas zu den Motiven, warum er das gemacht hatte? Er wollte diese Zellwollfabrik verlassen, auch weil er dort zu wenig Geld verdient hat?
Leo: Na ja, das mit dem wenigen Geld, das war gar nicht so schlimm, aber er wollte diese schreckliche, gesundheitsschädigende Arbeit dort verlassen. Vielleicht hat er sich auch nicht so genau überlegt, dass der Krieg viel gesundheitsgefährlicher sein würde! Und er wollte auch von seiner Familie weg. Also, seine Ehe sah in dem Moment zumindest aus, als ob die gescheitert wäre. Tatsächlich hat sie noch bis 1945 weiter bestanden, aber er wollte weg von seiner Familie, er wollte auch weg von den Kindern, er war überhaupt kein Mensch, der sich also auf solche Situationen einlassen konnte. Und er wollte aber gleichzeitig seine Familie gut versorgt wissen. Und das passierte natürlich, wenn man sich freiwillig zu so einer Formation wie der Waffen-SS meldete: Dann kriegten die Ehefrauen also da einen beträchtlichen Anteil von dem Sold!
Karkowsky: Und er wollte seinem Bruder folgen, der bereits an der Front war?
Leo: Er wollte natürlich auch vor seinem Vater, vor seinen Eltern zeigen, also hier, ich bin auch wer, ich bin nicht derjenige, aus dem letztlich hier nichts geworden ist – das soll der Vater so von ihm wohl behauptet haben –, sondern ich will mich hier auch verdient machen!
Karkowsky: Nun sind viele Biografien gerade in dieser Zeit des Zweiten Weltkriegs gebrochen worden, viele wären anders verlaufen, hätte es die Nazi-Zeit nicht gegeben. Wie bewerten Sie denn das jetzt, dass Strittmatter zum einen in dieser SS-Polizeieinheit war, zum anderen darüber geschwiegen hat all die Jahre? Wie groß ist dieser Makel im Vergleich zu seiner Leistung als Schriftsteller?
Leo: Oh, das ist ganz schwer, solche Bewertungen abzugeben. Weil, das sind immer irgendwie Verdikte, finde ich, und von Verdikten war in den letzten paar Jahren gegenüber Strittmatter in Bezug auf "Es lebe Strittmatter" und "Wir wollen mit diesen Geschichten nichts zu tun haben", oder "Nieder mit ihm, jetzt hat er sich gezeigt als … jetzt haben wir ihm die Maske sozusagen vom Gesicht gerissen!" Das ist ganz schwer, ich finde das … Jeder Mensch ist ein vielschichtiges Wesen und hat verschiedene Seiten, hat positive Eigenschaften und dunkle Seiten, Abgründe. Erst mal finde ich, dass die Literatur von ihm natürlich jetzt im Nachhinein nicht beeinträchtigt werden kann, also …
Karkowsky: Sie haben ja genau nach Dichtung und Wahrheit gesucht, welche Lebensentwürfe er in seinen Romanen hat, die ja stark autobiografisch geprägt sind, und wie jetzt die Wahrheit seines Lebens ist: Wie sehr unterscheidet sich das denn voneinander?
Leo: Seine stark autobiografisch gefärbten Romane beinhalten unheimlich viele Details seiner tatsächlichen Lebensgeschichte. Es ist also erstaunlich, dadurch, dass ich das sozusagen wirklich anhand von Briefen und anderen Dokumenten so nachvollziehen konnte, Kindheit, Jugend und auch Erwachsenenleben, ist es erstaunlich, wie viel man dann in diesen Romanen wiederfindet. Aber die wesentlichen Dinge, also die uns im Moment gerade als wesentlich erscheinen, also, diese Kriegsgeschichte, die kommt doch in stark veränderter und stark reduzierter Form vor.
Und der Held, da handelt es sich um Stanislaus Büdner im ersten Band des "Wundertäter", der spielt doch ganz offensichtlich eine andere Rolle in dem Roman, als Strittmatter es in der Realität seines Lebens gespielt hat. Nun muss man allerdings dazu sagen, dass kein Schriftsteller verpflichtet ist, seine Biografie, wenn er sie nicht als Autobiografie ausdrücklich ausweist, jetzt eins zu eins in diesem Buch darzustellen. Es ist aber für mich als Historikern interessant gewesen, wie viel sich darin widerspiegelt und in welcher Weise auch reale Geschehnisse, die sicher schmerzhaft und auch mit Scham besetzt waren, umgewandelt in seiner Literatur wiederkommen. Also, das ist einfach eine Möglichkeit der Analyse, die jetzt, finde, also möchte ich jedenfalls, weit entfernt davon ist, jetzt zu sagen, hier hat er nicht die Wahrheit gesagt oder da hat er halb gelogen oder so. Das wäre jetzt nicht mein Standpunkt dazu.
Karkowsky: Das Leben eines Schriftstellers aus Sicht einer Historikerin. Annette Leo hat die aktuelle Strittmatter-Biografie geschrieben. Wir haben mit ihr selbst gesprochen, Frau Leo, herzlichen Dank! Und erschienen ist diese Strittmatter-Biografie im Aufbau Verlag.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Annette Leo: Guten Tag!
Karkowsky: Konnten Sie Beweise finden für diese Vorwürfe von Werner Liersch?
Leo: Ja, Werner Liersch hat ja selber schon Belege dafür gefunden. Nicht zuletzt und vor allem in den Selbstaussagen von Erwin Strittmatter in seiner SED-Kaderakte. Insofern ging es jetzt darum, nach dieser sehr polarisierenden Diskussion, die daraufhin dann entbrannt war, also ungefähr, die Verteidiger haben gesagt hoch mit Strittmatter und wir lassen uns dieses Bild nicht kaputtmachen, und die anderen nieder, wieder ein neuer Fall von Verschweigen und also verschwiegenem Verbrechen. Also, da ging es jetzt darum, den jetzt irgendwie einzuordnen und in den Kontext zu stellen und natürlich auch weitere Belege dafür zu finden. Ich habe die Belege, viele Beweise dafür, das, was Werner Liersch, im Wesentlichen, was Werner Liersch schon dargelegt hat, habe ich gefunden, unter anderem also im SED-Archiv, auch im Bundesarchiv, in den Teilen, die sich also mit Polizeibataillonen und Kriegsgeschichte beschäftigen, aber vor allen Dingen, was die persönliche Beteiligung von Strittmatter an diesem Krieg betrifft, habe ich die Briefe sehen können, die er damals in dieser Zeit an seine Eltern und Geschwister geschrieben hat. Und das ist natürlich …
Karkowsky: … wie bewerten Sie das denn als Historikerin, persönliche Briefe, die ein Soldat von der Front schreibt? Wie viel Wahrheitsgehalt steckt da drin?
Leo: Na ja, also, das ist wie in allen Selbstaussagen, sind das auch natürlich nur Teilwahrheiten. Und dann muss man da in Bezug auf die Kriegszeit hinzusetzen, dass es sicher auch eine Art Zensur gegeben haben muss. Allerdings ist das wohl in den ersten Monaten des Einsatzes dieses Polizeibataillons dort in Slowenien, kann das nicht sehr viel Zensur gegeben haben, denn er berichtet recht freimütig von Einsätzen. Natürlich gefärbt auch aus diesem Wunsch also vor den Eltern, vor allem vor dem militärbegeisterten Vater irgendwie eine besonders gute Figur zu machen, also, da muss man natürlich auch noch ein paar kleine Abstriche machen. Aber im Wesentlichen schreibt er dort, was seine Mannschaft dort tun muss.
Und er schreibt es nicht uneingeschränkt jetzt sich identifizierend, sondern er hat auch seine Zweifel, seine Zwiespältigkeiten. Und erst als es anfängt, dass er gelobt wird für seine Taten, dass er also zu Sonderaktionen eingeteilt wird, da geht auch der Stolz mit ihm durch. Und zeitweilig hat er diese Zwiespältigkeiten und Zweifel, die er am Anfang durchaus hatte, weil er gesehen hat, also, wie die Leute dort bedrückt werden von der deutschen Besatzung, und wie sie auch diese deutschen Besatzer hassen, das hat er dann zum Teil verloren und er geht dann ganz auf in diesem Erfolg, den er da plötzlich hat.
Karkowsky: Sie gleichen das dann ab mit anderen Quellen, die beschreiben wie mörderisch dieses dritte Bataillon des SS-Polizeigebirgsjägerregiments war. Heißt das, dass Strittmatter an diesen Mordaktionen eben auch teilgenommen hat?
Leo: Also, bei mindestens zwei solchen Aktionen ist es klar, dass er dabei war. Das beschreibt er in einem Brief, das ist eine Aktion, die sich um das Dorf Drazgose abgespielt hat, und zwar war das im Januar 1942. Und da beschreibt er das ganz genau, was passiert ist, und dadurch, dass er den Namen auch nennt, konnte ich natürlich auch in slowenischen Quellen da nachlesen, was ist in Drazgose passiert. Und das ist eine der größten Kampfaktionen zwischen Partisanen und den Polizeieinheiten gewesen. Und es gibt ein erhaltenes Kriegstagebuch einer anderen Polizeieinheit, die ebenfalls daran teilgenommen hat, und dieser Major Kissel, der das alles minutiös aufschreibt, der schreibt auch, welche anderen Einheiten daran beteiligt waren, und das war auch das Bataillon 325. So hieß es ja vorher, bevor es in dieses Regiment Nummer 18 integriert wurde.
Karkowsky: Hatte Strittmatter nicht immer behauptet, er habe im Krieg keinen einzigen Schuss abgegeben?
Leo: Ja, das hat er behauptet. Das ist eine der wenigen Aussagen, die er überhaupt gemacht hat über den Krieg. Und das kann man nun also wirklich widerlegen. Also, er ist, in diesem Kampf um Drazgose ist er Schütze zwei am Leichtmaschinengewehr, das schreibt er seinen Eltern. Und der Schütze zwei, der schafft immer die Munition ran und der andere legt sie ein. Aber ich meine, das ist dann schon eine sehr beschönigende Vorstellung, dass dann aus dem eigenen Gewehrlauf keine Kugel gekommen ist, wenn man da an so einem ratternden Maschinengewehr gesessen hat. Und er schreibt dann auch ganz deutlich, es musste Artillerie eingesetzt werden, weil wir das Dorf so nicht nehmen konnten, wir mussten uns zurückziehen, am nächsten Tag nahmen wir es endlich und brannten es nieder. Also, da identifiziert er sich total damit, also mit dieser Niederbrennungsaktion. Allerdings sind danach dann, zwei Tage später, in diesem Dorf Drazgose alle männlichen Bewohner über 15 Jahren erschossen worden. Das geht nicht daraus hervor, aus den Dokumenten, a) ob seine Einheit an diesen Erschießungen auch beteiligt gewesen ist, und b) natürlich auch nicht, dass er persönlich da ein Gewehr in der Hand gehalten hat. Aber wir können heute wirklich davon ausgehen, dass er dieses Geschehen erlebt hat, gesehen hat und dass er dabei war!
Karkowsky: Sie hören die Berliner Historikerin Annette Leo über ihre Strittmatter-Biografie, die sie heute vorgelegt hat. Frau Leo, es wurde auch darum gestritten, ob Strittmatter denn selber Mitglied der Waffen-SS war. Man weiß, dass dieses Polizeiregiment den Ehrentitel – aus heutiger Sicht klingt das pervers –, diesen Ehrentitel "SS" erst später bekommen hat, aber bei Ihnen erfährt man zum Beispiel auch, dass Strittmatter selbst freiwillig einen Aufnahmeantrag gestellt hat für die Waffen-SS und auch angenommen wurde.
Leo: Ja, dieses Dokument also dieses Aufnahmeantrags, das gibt es im Bundesarchiv, das kann also heute jeder sehen und sich auch gegebenenfalls kopieren. Das ist vollkommen frei, das ist auch schon, bevor meine Biografie erschienen ist, war das auch schon bekannt. Allerdings wusste man immer nicht: Ist er nun Mitglied geworden oder blieb das bei diesem Antrag? Jetzt geht es aber aus seinen eigenen Briefen zweifelsfrei hervor, dass er zwar für tauglich befunden wurde. Er hat sich freiwillig im Februar 1945, nein, im April 1945 hat er sich dort gemeldet und er ist für tauglich befunden worden, aber die Zellwollfabrik, in der er damals arbeitete und die ja so kriegswichtig, für kriegswichtig erachtet wurde, hat ihn also reklamiert als unabkömmlich. Und er ist dann, hatte sich gleichzeitig auch bei der Wehrmacht beworben als Freiwilliger und bei der Polizei.
Karkowsky: Die Motive sind vielleicht noch ganz wichtig, Sie schreiben auch etwas zu den Motiven, warum er das gemacht hatte? Er wollte diese Zellwollfabrik verlassen, auch weil er dort zu wenig Geld verdient hat?
Leo: Na ja, das mit dem wenigen Geld, das war gar nicht so schlimm, aber er wollte diese schreckliche, gesundheitsschädigende Arbeit dort verlassen. Vielleicht hat er sich auch nicht so genau überlegt, dass der Krieg viel gesundheitsgefährlicher sein würde! Und er wollte auch von seiner Familie weg. Also, seine Ehe sah in dem Moment zumindest aus, als ob die gescheitert wäre. Tatsächlich hat sie noch bis 1945 weiter bestanden, aber er wollte weg von seiner Familie, er wollte auch weg von den Kindern, er war überhaupt kein Mensch, der sich also auf solche Situationen einlassen konnte. Und er wollte aber gleichzeitig seine Familie gut versorgt wissen. Und das passierte natürlich, wenn man sich freiwillig zu so einer Formation wie der Waffen-SS meldete: Dann kriegten die Ehefrauen also da einen beträchtlichen Anteil von dem Sold!
Karkowsky: Und er wollte seinem Bruder folgen, der bereits an der Front war?
Leo: Er wollte natürlich auch vor seinem Vater, vor seinen Eltern zeigen, also hier, ich bin auch wer, ich bin nicht derjenige, aus dem letztlich hier nichts geworden ist – das soll der Vater so von ihm wohl behauptet haben –, sondern ich will mich hier auch verdient machen!
Karkowsky: Nun sind viele Biografien gerade in dieser Zeit des Zweiten Weltkriegs gebrochen worden, viele wären anders verlaufen, hätte es die Nazi-Zeit nicht gegeben. Wie bewerten Sie denn das jetzt, dass Strittmatter zum einen in dieser SS-Polizeieinheit war, zum anderen darüber geschwiegen hat all die Jahre? Wie groß ist dieser Makel im Vergleich zu seiner Leistung als Schriftsteller?
Leo: Oh, das ist ganz schwer, solche Bewertungen abzugeben. Weil, das sind immer irgendwie Verdikte, finde ich, und von Verdikten war in den letzten paar Jahren gegenüber Strittmatter in Bezug auf "Es lebe Strittmatter" und "Wir wollen mit diesen Geschichten nichts zu tun haben", oder "Nieder mit ihm, jetzt hat er sich gezeigt als … jetzt haben wir ihm die Maske sozusagen vom Gesicht gerissen!" Das ist ganz schwer, ich finde das … Jeder Mensch ist ein vielschichtiges Wesen und hat verschiedene Seiten, hat positive Eigenschaften und dunkle Seiten, Abgründe. Erst mal finde ich, dass die Literatur von ihm natürlich jetzt im Nachhinein nicht beeinträchtigt werden kann, also …
Karkowsky: Sie haben ja genau nach Dichtung und Wahrheit gesucht, welche Lebensentwürfe er in seinen Romanen hat, die ja stark autobiografisch geprägt sind, und wie jetzt die Wahrheit seines Lebens ist: Wie sehr unterscheidet sich das denn voneinander?
Leo: Seine stark autobiografisch gefärbten Romane beinhalten unheimlich viele Details seiner tatsächlichen Lebensgeschichte. Es ist also erstaunlich, dadurch, dass ich das sozusagen wirklich anhand von Briefen und anderen Dokumenten so nachvollziehen konnte, Kindheit, Jugend und auch Erwachsenenleben, ist es erstaunlich, wie viel man dann in diesen Romanen wiederfindet. Aber die wesentlichen Dinge, also die uns im Moment gerade als wesentlich erscheinen, also, diese Kriegsgeschichte, die kommt doch in stark veränderter und stark reduzierter Form vor.
Und der Held, da handelt es sich um Stanislaus Büdner im ersten Band des "Wundertäter", der spielt doch ganz offensichtlich eine andere Rolle in dem Roman, als Strittmatter es in der Realität seines Lebens gespielt hat. Nun muss man allerdings dazu sagen, dass kein Schriftsteller verpflichtet ist, seine Biografie, wenn er sie nicht als Autobiografie ausdrücklich ausweist, jetzt eins zu eins in diesem Buch darzustellen. Es ist aber für mich als Historikern interessant gewesen, wie viel sich darin widerspiegelt und in welcher Weise auch reale Geschehnisse, die sicher schmerzhaft und auch mit Scham besetzt waren, umgewandelt in seiner Literatur wiederkommen. Also, das ist einfach eine Möglichkeit der Analyse, die jetzt, finde, also möchte ich jedenfalls, weit entfernt davon ist, jetzt zu sagen, hier hat er nicht die Wahrheit gesagt oder da hat er halb gelogen oder so. Das wäre jetzt nicht mein Standpunkt dazu.
Karkowsky: Das Leben eines Schriftstellers aus Sicht einer Historikerin. Annette Leo hat die aktuelle Strittmatter-Biografie geschrieben. Wir haben mit ihr selbst gesprochen, Frau Leo, herzlichen Dank! Und erschienen ist diese Strittmatter-Biografie im Aufbau Verlag.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.