"Jeder Patient enthält in sich einen Kosmos"
Seit über 5.000 Jahren zeigt Krebs den Forschern und Ärzten ihre Grenzen auf. Wir seien heute allerdings besser gerüstet, um den Krebs an der Wurzel zu bekämpfen, sagt der Arzt Siddhartha Mukherjee, dessen Buch "Der König aller Krankheiten" jetzt auf Deutsch erschienen ist.
Ulrike Timm: Seit über 5.000 Jahren lebt die Menschheit mit Krebs, und ebenso lange stirbt sie daran. Bis heute zeigt die Krankheit den Forschern und Ärzten ihre Grenzen. Auch wenn es für einige Krebsarten große Heilungschancen gibt - diesen Gegner haben die Mediziner bis heute nicht wirklich entschlüsseln können. Oft genug bleiben die größten Bemühungen ohne Erfolg.
Den König der Krankheiten, so nannte ein Chirurg im 19. Jahrhundert den Krebs, und "Der König aller Krankheiten", so heißt das Buch, mit dem der amerikanische Krebsforscher und Arzt Siddhartha Mukherjee im vergangenen Jahr den Pulitzerpreis erhielt, also eine literarische Auszeichnung. Und dieses Buch ist vollkommen neu und ungewöhnlich, weil es durch Jahrtausende die Kulturgeschichte einer Krankheit beschreibt und sie zugleich in enge Beziehung setzt zu vielen Patientengeschichten.
Heute erscheint es auf Deutsch, und Siddhartha Mukherjee, der Arzt, Forscher und Autor, ist jetzt unser Gast im "Radiofeuilleton". Ganz herzlich willkommen, welcome, Mister Mukherjee!
Siddhartha Mukherjee: Thank you so much!
Timm: Sie nennen Ihr Buch "Der König aller Krankheiten" eine Biografie. Warum eigentlich? Biografien werden doch eigentlich über Menschen geschrieben.
Mukherjee: Dieser Titel kam mir eigentlich recht spät erst in den Sinn. Ursprünglich hieß das Buch ja "Die Geschichte des Krebses". Erst einige Monate vor Abschluss dann wurde mir klar, dass ich eine Art Bildnis dieser Krankheit gezeichnet hatte. Über verschiedene Etappen hinweg reihten sich diese Bildnisse aneinander wie bei einer Biografie. Zum Beispiel beim Brustkrebs: Wir erfassen den Brustkrebs im Jahre 1750, 1850, 1950, 2050 - so entsteht nach und nach eine Art Lebensgeschichte, als wäre es ein dreidimensionales Porträt einer menschlichen Gestalt.
Ich habe nicht versucht, diese Personifizierung zu übertreiben. Dennoch sollte sich am Ende des Lesens im Leser so eine Art Gefühl einstellen, man habe eine große Reise vollzogen und man sei vertraut geworden mit diesem Reisegefährten, man könne sozusagen das Wesen des Krebses jetzt erfassen, wie man eben am Ende einer Biografie auch sich hineinversetzt in einen Menschen. Das ist also eine Art poetische Metapher, die aber durchaus genau zutrifft.
Timm: Dann lassen Sie uns mal bleiben beim Beispiel des Brustkrebses. Sie zeichnen den Kampf gegen diese Krankheit in 100 Jahresschritten nach, von 1750 bis in die Zukunft. Welche Linien lassen sich denn da verfolgen?
Mukherjee: Nun, wenn wir bei diesem Beispiel des Brustkrebses bleiben, so sehen wir, dass ab 1750 sich gewaltige Umwälzungen bei de Behandlung der Krankheit ergeben haben. Im Jahre 1750 traf eine an Brustkrebs erkrankte Frau auf eine ganz andere Behandlungslandschaft. Damals war das Gefühl der Scham vorherrschend. Die Frauen versuchten sogar, die Brustkrebserkrankung zu verstecken. Wegen dieser sexuellen Untertöne versuchte man, das möglichst unter den Tisch zu kehren.
Dann wurde die Mastektomie, also die chirurgische Entfernung der Brust eingeführt. Ich habe da Berichte aus dem 18. Jahrhundert, wonach eine Frau am Ende dieser Operation vor lauter Scham in Tränen ausbricht, weil sie das eben so über sich ergehen lassen musste. Nach und nach vergrößerte man auch die Aggressivität dieses Eingriffes. Im späten 19. Jahrhundert wurde nicht nur die Brust, sondern auch Teile des umliegenden Muskelgewebes bis hin zum Achselgewebe, bis hin zu den Schichten um die Aorta herum entfernt - alles wurde ausgeräumt, um eben auch die Verzweigungen, die Lymphknoten, mit auszuräumen.
Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckte man die Bestrahlung: Man versuchte weniger umfassend zu operieren und durch Bestrahlung zu erreichen, dass mehr Gewebe erhalten werden konnte. In der Mitte des 20. Jahrhunderts - 1950, 1960 - trat verstärkt medikamentöse Behandlung hinzu, Chemotherapie, und in unseren Tagen forscht man im Bereich der Genetik. Sie sehen also, es ist ein gewaltiges Panorama ganz unterschiedlicher Behandlungsansätze, das sich vor unseren Augen abrollt.
Timm: Inwiefern hilft Ihnen denn eine solche historische Recherche als Forscher im 21. Jahrhundert und als Arzt am Krankenbett?
Mukherjee: Eine derartige Wissenschaftsgeschichte flößt große Demut ein. Man sieht, dass der Fortschritt der Naturwissenschaft nicht immer nur in einer Richtung nach vorne geht. Man muss manchmal auch zurückgehen, um dann später den Fortschritt zu erreichen. Es ist also eine tiefe Demut, die ich angesichts dieser Geschichte empfinde.
Timm: Was lernt der Arzt Siddhartha Mukherjee eigentlich täglich am Krankenbett von seinen Patienten.
Mukherjee: Alles, jeder Arzt entdeckt in seinem Patienten einen Kosmos. Ihre Frage könnte genau so gut lauten: Was kann man vom Studium der Atome, von der Betrachtung des Kosmos lernen? Jeder Patient enthält in sich einen Kosmos. Wenn man sich vertieft in einen solchen Patienten, in seine Leidensgeschichte, dann kann man im Grunde alles lernen. Man könnte ein ganzes Leben im Grunde damit verbringen.
Timm: Ist Ihnen von diesen vielen Patienten, vielleicht jemand besonders in Erinnerung geblieben?
Mukherjee: Mein Buch fängt ja mit einer solchen Patientin an, einer Lehrerin, die an Leukämie erkrankt war. Meistens wissen Autoren ja beim Schreiben eines Buches, wie das Buch ausgehen wird. Ich wusste es nicht, die Frau hatte damals eine Überlebenswahrscheinlichkeit von 30 Prozent, und im Laufe des Schreibens wurde mein Buch, mein ganzes persönliches, mein Gefühlsleben mit dieser Geschichte der Patientin so innig verwoben, dass ich das gar nicht mehr unterscheiden konnte.
Jeder Sieg, den sie errang, war auch mein Sieg, jede Niederlage, die sie erlitt, war auch meine Niederlage. Zum Glück hat sie am Schluss doch überlebt. Es ist, als führe man auf einer Straße, ohne zu wissen, wohin es geht.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton" im Gespräch mit dem Arzt und Krebsforscher Siddhartha Mukherjee. Heute erscheint sein Buch "Der König aller Krankheiten", für das er im vergangenen Jahr den Pulitzerpreis in Amerika bekam, in deutscher Sprache. Herr Mukherjee, Sie haben das Buch einem Kind gewidmet, Robert Sandler, 1945 geboren, er wurde nur drei Jahre alt und starb an akuter Leukämie. Warum gerade ihm zum Gedächtnis?
Mukherjee: Man ist ja als Buchautor häufig auf der Suche nach Namen. Dieser Robert Sandler tauchte zunächst in den Unterlagen nur als R. S. abgekürzt auf. Ich habe mich bemüht, dahinter zu schauen: Wer ist eigentlich dieser R. S.? Und ich fand eben heraus, es ist Robert Sandler, einer der ersten Menschen, die Chemotherapie empfangen hatten - in seinem Fall eben wegen der Leukämie. Die ersten Behandlungen führten auch zu einer gewissen Besserung, nach einigen Monaten jedoch gab es den Rückfall und er starb schließlich.
Einige Jahre später, in den frühen 60er-Jahren, hatte man diese Behandlung so weit vervollkommnet, dass es schon eine viel bessere Überlebenswahrscheinlichkeit gab, nämlich 60 Prozent, 1990 war die Überlebensrate schon 80 Prozent. Das heißt, in diesem einen Fall hatte sich tatsächlich diese Erfolgsgeschichte eingestellt, dieser Robert Sandler steht am Beginn dieses Bogens, der zur Verbesserung der Überlebensmöglichkeiten geführt hat. Er steht sozusagen wie eine Ikone am Anfang dieser Geschichte. Und ich wollte ihm sozusagen ein Denkmal setzen, ihn dadurch gewissermaßen wieder zum Leben erwecken.
Timm: Dieser kleine Junge steht am Anfang einer Geschichte der Hoffnung. Bei anderen Krebsarten ist man bis heute nahezu machtlos - Bauchspeicheldrüse, innere Organe. Sie sind Forscher, und Sie sind Arzt. Wie häufig fühlen Sie sich schlicht und einfach ohnmächtig?
Mukherjee: Ich fühle mich nicht ohnmächtig oder hoffnungslos. Gerade jetzt erleben wir einen außerordentlichen Augenblick, einen Moment, wo es zum ersten Mal in der Geschichte möglich ist, zu verstehen, was die Krebszelle ausmacht, oder was Krebs eigentlich ist. Wir versuchen nämlich wirklich auf der Zellebene zu verstehen, und es gelingt uns ja auch, wie Krebs entsteht.
Selbstverständlich gibt es immer noch Raum für Versuch und Irrtum, aber wir sind doch sehr viel weiter in der Erkenntnis der Wirkweise von Krebs. Wir sind also viel besser gerüstet, um den Krebs an der Wurzel, das heißt, anhand seiner Entstehungsmechanismen zu erkennen und zu bekämpfen, das heißt, die gesamte Landschaft hat sich vollständig umgewandelt.
Timm: Wir sind sehr viel weiter heute, aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Der Krebs - das wird im Buch auch immer wieder deutlich - ist noch lange nicht besiegt. Wenn ein Sieg gegen diesen König aller Krankheiten noch nicht zu erreichen ist, was sollte dann Ihrer Meinung nach heute das vorrangige Ziel aller Forschung sein, die im Moment geleistet wird?
Mukherjee: Den Krebs zu verstehen, das ist das Entscheidende, seine Wirkmechanismen aufklären, und von daher aus dann einen neuen Angriff auf diesen Gegner starten. In meinem letzten Kapitel, das auch recht umfänglich ist, werfe ich ja einen Blick in die Zukunft und frage, was kommt als Nächstes. Ich versuche eine Art Straßenkarte zu entwerfen, wo die Reise hingeht. Selbstverständlich werden wir den Krebs niemals abschaffen oder ausmerzen können, aber wir werden viele Krebsfälle heilen, behandeln und auch verhindern können, das ist ein ganz entscheidender Schritt. Es ist ein Sieg über unsere Genome.
Timm: Mister Mukherjee, die Menschheit hat die verheerendsten Seuchen in den Griff gekriegt. Der Krebs bleibt trotz aller Erfolge immer noch der König aller Krankheiten. Wann setzen wir diesen König vielleicht doch mal schachmatt?
Mukherjee: Ich glaube, wir werden diesen König niemals endgültig absetzen können, aber wir können sein Königreich schrumpfen lassen, um in diesem Bild zu bleiben. Ich glaube in der Tat, dass wir Krebskrankheiten in den frühen Lebensjahren verhindern können. Selbstverständlich, wir werden den Krebs nie loswerden. Er ist Teil unseres genetischen Erbes, denn dieselben Mechanismen, die gesunde Zellen wachsen lassen, können, wenn sie aus der Bahn geworfen werden, auch Krebszellen wachsen lassen.
Der Krebs ist sozusagen wie ein bösartiger Zwilling, mit dem wir verwoben sind, den können wir nicht chirurgisch entfernen, aber wir können ihn steuern, wir können ihn eindämmen, wir können ihn auch in gewissen Grenzen behandeln.
Timm: Der Arzt und Krebsforscher Siddhartha Mukherjee. Sein sehr eindrucksvolles Buch "Der König aller Krankheiten", ein Überblick über erlebte und erlittene Medizingeschichte, für das er den Pulitzerpreis bekam, das erscheint heute auf Deutsch. Alle guten Wünsche für Sie und Ihre Patienten, thank you for joining us!
Mukherjee: Thank you!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Den König der Krankheiten, so nannte ein Chirurg im 19. Jahrhundert den Krebs, und "Der König aller Krankheiten", so heißt das Buch, mit dem der amerikanische Krebsforscher und Arzt Siddhartha Mukherjee im vergangenen Jahr den Pulitzerpreis erhielt, also eine literarische Auszeichnung. Und dieses Buch ist vollkommen neu und ungewöhnlich, weil es durch Jahrtausende die Kulturgeschichte einer Krankheit beschreibt und sie zugleich in enge Beziehung setzt zu vielen Patientengeschichten.
Heute erscheint es auf Deutsch, und Siddhartha Mukherjee, der Arzt, Forscher und Autor, ist jetzt unser Gast im "Radiofeuilleton". Ganz herzlich willkommen, welcome, Mister Mukherjee!
Siddhartha Mukherjee: Thank you so much!
Timm: Sie nennen Ihr Buch "Der König aller Krankheiten" eine Biografie. Warum eigentlich? Biografien werden doch eigentlich über Menschen geschrieben.
Mukherjee: Dieser Titel kam mir eigentlich recht spät erst in den Sinn. Ursprünglich hieß das Buch ja "Die Geschichte des Krebses". Erst einige Monate vor Abschluss dann wurde mir klar, dass ich eine Art Bildnis dieser Krankheit gezeichnet hatte. Über verschiedene Etappen hinweg reihten sich diese Bildnisse aneinander wie bei einer Biografie. Zum Beispiel beim Brustkrebs: Wir erfassen den Brustkrebs im Jahre 1750, 1850, 1950, 2050 - so entsteht nach und nach eine Art Lebensgeschichte, als wäre es ein dreidimensionales Porträt einer menschlichen Gestalt.
Ich habe nicht versucht, diese Personifizierung zu übertreiben. Dennoch sollte sich am Ende des Lesens im Leser so eine Art Gefühl einstellen, man habe eine große Reise vollzogen und man sei vertraut geworden mit diesem Reisegefährten, man könne sozusagen das Wesen des Krebses jetzt erfassen, wie man eben am Ende einer Biografie auch sich hineinversetzt in einen Menschen. Das ist also eine Art poetische Metapher, die aber durchaus genau zutrifft.
Timm: Dann lassen Sie uns mal bleiben beim Beispiel des Brustkrebses. Sie zeichnen den Kampf gegen diese Krankheit in 100 Jahresschritten nach, von 1750 bis in die Zukunft. Welche Linien lassen sich denn da verfolgen?
Mukherjee: Nun, wenn wir bei diesem Beispiel des Brustkrebses bleiben, so sehen wir, dass ab 1750 sich gewaltige Umwälzungen bei de Behandlung der Krankheit ergeben haben. Im Jahre 1750 traf eine an Brustkrebs erkrankte Frau auf eine ganz andere Behandlungslandschaft. Damals war das Gefühl der Scham vorherrschend. Die Frauen versuchten sogar, die Brustkrebserkrankung zu verstecken. Wegen dieser sexuellen Untertöne versuchte man, das möglichst unter den Tisch zu kehren.
Dann wurde die Mastektomie, also die chirurgische Entfernung der Brust eingeführt. Ich habe da Berichte aus dem 18. Jahrhundert, wonach eine Frau am Ende dieser Operation vor lauter Scham in Tränen ausbricht, weil sie das eben so über sich ergehen lassen musste. Nach und nach vergrößerte man auch die Aggressivität dieses Eingriffes. Im späten 19. Jahrhundert wurde nicht nur die Brust, sondern auch Teile des umliegenden Muskelgewebes bis hin zum Achselgewebe, bis hin zu den Schichten um die Aorta herum entfernt - alles wurde ausgeräumt, um eben auch die Verzweigungen, die Lymphknoten, mit auszuräumen.
Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckte man die Bestrahlung: Man versuchte weniger umfassend zu operieren und durch Bestrahlung zu erreichen, dass mehr Gewebe erhalten werden konnte. In der Mitte des 20. Jahrhunderts - 1950, 1960 - trat verstärkt medikamentöse Behandlung hinzu, Chemotherapie, und in unseren Tagen forscht man im Bereich der Genetik. Sie sehen also, es ist ein gewaltiges Panorama ganz unterschiedlicher Behandlungsansätze, das sich vor unseren Augen abrollt.
Timm: Inwiefern hilft Ihnen denn eine solche historische Recherche als Forscher im 21. Jahrhundert und als Arzt am Krankenbett?
Mukherjee: Eine derartige Wissenschaftsgeschichte flößt große Demut ein. Man sieht, dass der Fortschritt der Naturwissenschaft nicht immer nur in einer Richtung nach vorne geht. Man muss manchmal auch zurückgehen, um dann später den Fortschritt zu erreichen. Es ist also eine tiefe Demut, die ich angesichts dieser Geschichte empfinde.
Timm: Was lernt der Arzt Siddhartha Mukherjee eigentlich täglich am Krankenbett von seinen Patienten.
Mukherjee: Alles, jeder Arzt entdeckt in seinem Patienten einen Kosmos. Ihre Frage könnte genau so gut lauten: Was kann man vom Studium der Atome, von der Betrachtung des Kosmos lernen? Jeder Patient enthält in sich einen Kosmos. Wenn man sich vertieft in einen solchen Patienten, in seine Leidensgeschichte, dann kann man im Grunde alles lernen. Man könnte ein ganzes Leben im Grunde damit verbringen.
Timm: Ist Ihnen von diesen vielen Patienten, vielleicht jemand besonders in Erinnerung geblieben?
Mukherjee: Mein Buch fängt ja mit einer solchen Patientin an, einer Lehrerin, die an Leukämie erkrankt war. Meistens wissen Autoren ja beim Schreiben eines Buches, wie das Buch ausgehen wird. Ich wusste es nicht, die Frau hatte damals eine Überlebenswahrscheinlichkeit von 30 Prozent, und im Laufe des Schreibens wurde mein Buch, mein ganzes persönliches, mein Gefühlsleben mit dieser Geschichte der Patientin so innig verwoben, dass ich das gar nicht mehr unterscheiden konnte.
Jeder Sieg, den sie errang, war auch mein Sieg, jede Niederlage, die sie erlitt, war auch meine Niederlage. Zum Glück hat sie am Schluss doch überlebt. Es ist, als führe man auf einer Straße, ohne zu wissen, wohin es geht.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton" im Gespräch mit dem Arzt und Krebsforscher Siddhartha Mukherjee. Heute erscheint sein Buch "Der König aller Krankheiten", für das er im vergangenen Jahr den Pulitzerpreis in Amerika bekam, in deutscher Sprache. Herr Mukherjee, Sie haben das Buch einem Kind gewidmet, Robert Sandler, 1945 geboren, er wurde nur drei Jahre alt und starb an akuter Leukämie. Warum gerade ihm zum Gedächtnis?
Mukherjee: Man ist ja als Buchautor häufig auf der Suche nach Namen. Dieser Robert Sandler tauchte zunächst in den Unterlagen nur als R. S. abgekürzt auf. Ich habe mich bemüht, dahinter zu schauen: Wer ist eigentlich dieser R. S.? Und ich fand eben heraus, es ist Robert Sandler, einer der ersten Menschen, die Chemotherapie empfangen hatten - in seinem Fall eben wegen der Leukämie. Die ersten Behandlungen führten auch zu einer gewissen Besserung, nach einigen Monaten jedoch gab es den Rückfall und er starb schließlich.
Einige Jahre später, in den frühen 60er-Jahren, hatte man diese Behandlung so weit vervollkommnet, dass es schon eine viel bessere Überlebenswahrscheinlichkeit gab, nämlich 60 Prozent, 1990 war die Überlebensrate schon 80 Prozent. Das heißt, in diesem einen Fall hatte sich tatsächlich diese Erfolgsgeschichte eingestellt, dieser Robert Sandler steht am Beginn dieses Bogens, der zur Verbesserung der Überlebensmöglichkeiten geführt hat. Er steht sozusagen wie eine Ikone am Anfang dieser Geschichte. Und ich wollte ihm sozusagen ein Denkmal setzen, ihn dadurch gewissermaßen wieder zum Leben erwecken.
Timm: Dieser kleine Junge steht am Anfang einer Geschichte der Hoffnung. Bei anderen Krebsarten ist man bis heute nahezu machtlos - Bauchspeicheldrüse, innere Organe. Sie sind Forscher, und Sie sind Arzt. Wie häufig fühlen Sie sich schlicht und einfach ohnmächtig?
Mukherjee: Ich fühle mich nicht ohnmächtig oder hoffnungslos. Gerade jetzt erleben wir einen außerordentlichen Augenblick, einen Moment, wo es zum ersten Mal in der Geschichte möglich ist, zu verstehen, was die Krebszelle ausmacht, oder was Krebs eigentlich ist. Wir versuchen nämlich wirklich auf der Zellebene zu verstehen, und es gelingt uns ja auch, wie Krebs entsteht.
Selbstverständlich gibt es immer noch Raum für Versuch und Irrtum, aber wir sind doch sehr viel weiter in der Erkenntnis der Wirkweise von Krebs. Wir sind also viel besser gerüstet, um den Krebs an der Wurzel, das heißt, anhand seiner Entstehungsmechanismen zu erkennen und zu bekämpfen, das heißt, die gesamte Landschaft hat sich vollständig umgewandelt.
Timm: Wir sind sehr viel weiter heute, aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Der Krebs - das wird im Buch auch immer wieder deutlich - ist noch lange nicht besiegt. Wenn ein Sieg gegen diesen König aller Krankheiten noch nicht zu erreichen ist, was sollte dann Ihrer Meinung nach heute das vorrangige Ziel aller Forschung sein, die im Moment geleistet wird?
Mukherjee: Den Krebs zu verstehen, das ist das Entscheidende, seine Wirkmechanismen aufklären, und von daher aus dann einen neuen Angriff auf diesen Gegner starten. In meinem letzten Kapitel, das auch recht umfänglich ist, werfe ich ja einen Blick in die Zukunft und frage, was kommt als Nächstes. Ich versuche eine Art Straßenkarte zu entwerfen, wo die Reise hingeht. Selbstverständlich werden wir den Krebs niemals abschaffen oder ausmerzen können, aber wir werden viele Krebsfälle heilen, behandeln und auch verhindern können, das ist ein ganz entscheidender Schritt. Es ist ein Sieg über unsere Genome.
Timm: Mister Mukherjee, die Menschheit hat die verheerendsten Seuchen in den Griff gekriegt. Der Krebs bleibt trotz aller Erfolge immer noch der König aller Krankheiten. Wann setzen wir diesen König vielleicht doch mal schachmatt?
Mukherjee: Ich glaube, wir werden diesen König niemals endgültig absetzen können, aber wir können sein Königreich schrumpfen lassen, um in diesem Bild zu bleiben. Ich glaube in der Tat, dass wir Krebskrankheiten in den frühen Lebensjahren verhindern können. Selbstverständlich, wir werden den Krebs nie loswerden. Er ist Teil unseres genetischen Erbes, denn dieselben Mechanismen, die gesunde Zellen wachsen lassen, können, wenn sie aus der Bahn geworfen werden, auch Krebszellen wachsen lassen.
Der Krebs ist sozusagen wie ein bösartiger Zwilling, mit dem wir verwoben sind, den können wir nicht chirurgisch entfernen, aber wir können ihn steuern, wir können ihn eindämmen, wir können ihn auch in gewissen Grenzen behandeln.
Timm: Der Arzt und Krebsforscher Siddhartha Mukherjee. Sein sehr eindrucksvolles Buch "Der König aller Krankheiten", ein Überblick über erlebte und erlittene Medizingeschichte, für das er den Pulitzerpreis bekam, das erscheint heute auf Deutsch. Alle guten Wünsche für Sie und Ihre Patienten, thank you for joining us!
Mukherjee: Thank you!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.