Stefan Capaliku: "Jeder wird verrückt auf seine Art"

Alltag in der albanischen Diktatur

06:33 Minuten
Auf dem Cover ist ein Schwarzweiß-Foto, auf dem Kinder auf dem Dach einer Kirche hocken und in die Kamera blinzeln. Im Himmel sind Buchtitel und Autorenname abgedruckt.
© Transit Verlag

Stefan Capaliku

Aus dem Albanischen von Zuzana Finger

Jeder wird verrückt auf seine ArtTransit Verlag, Berlin 2022

160 Seiten

18,00 Euro

Von Jörg Magenau |
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Albanien Ende der 1960er-Jahre: Wie man als Kind das Leben in einer Diktatur erlebt, schildert Stefan Çapaliku in seinem Roman. Der Diktator Enver Hoxha kommt darin eigentlich nur als Gerücht vor. Die Verrücktheit der Verhältnisse fällt niemandem auf.
Sicher lässt sich das Leben in einer Diktatur anhand politischer Ereignisse erzählen. Stefan Çapaliku macht es anders. Der albanische Schriftsteller, der als Professor für Ästhetik in Tirana lebt, gliedert seinen schmalen Kindheitsroman in drei Kapitel: „Davor“, „Während“ und „Danach“.
Das zentrale Kapitel, „Während“, ist dem Fernsehen gewidmet, das in Albanien 1967 eingeführt wurde. Eines der allerersten Geräte stand in der Wohnküche seiner Eltern, die deshalb zu einem gesellschaftlichen Versammlungsraum wurde.

Mondlandung als gesellschaftliches Ereignis

Die ganze weitverstreute Familie und die Nachbarschaft kamen zu Besuch, um italienische Filme und jugoslawische Programme zu verfolgen und dazu einen Schnaps zu trinken. Die Mondlandung wird so zum gesellschaftlichen Ereignis, wie auch die Fußball-WM 1970 und die EM 1972.
Der Machtapparat des seltsamen Diktators Enver Hoxha brauchte recht lange, um zu begreifen, welches Sehnsuchtspotenzial im neuen Medium steckte. Erst 1974 wurden Störsender errichtet, sodass dann nur noch TV Tirana zu empfangen war. „Danach“ war das Fernsehen nur noch interessant, wenn das leere Gehäuse eines Apparats als Bühne fürs Puppentheater diente.

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Stefan Çapaliku, 1965 im nordalbanischen Shkodra geboren, schreibt anekdotisch, in kurzen Szenen, an seinen Erinnerungen entlang. Sein Icherzähler blickt zwar aus einer unbestimmten Gegenwart heraus auf diese vergangene Zeit zurück, beschränkt sich aber dennoch auf die Perspektive des Jungen, der die Diktatur als Alltag und Normalität erlebt.
Damit er die TV-Zäsur von 1967 beschreiben kann, muss er ihn um ein paar Jahre älter machen als sich selbst, lässt ihn dann aber ziemlich lange im Kindheitsalter verharren, als würde er nicht älter werden wollen. Seine Heimat Shkodra schildert er als eine der hässlichsten Städte der Welt, aber auch als liebenswertes Dorf, in dem jeder jeden kennt, und wo man sogar zu wissen glaubt, wer als Spitzel für den Geheimdienst arbeitet.

Terror wird im Laufe der Jahre immer sichtbarer

Der Schrecken der Unterdrückung ist durchaus präsent, allerdings auch ein bisschen verniedlicht durch den kindlichen Blick. Die früheste Erinnerung gilt dem Besuch eines Onkels, des Doktors, im Gefängnis. Warum er dort zehn Jahre absitzen muss, ist dem Jungen nicht klar.
Ein katholischer Priester wird verhaftet, der sich gegen den Abriss des Kirchturms wehrt und seine Religion mutig gegen den staatlich verordneten Atheismus verteidigt. In der Schule fordert die Lehrerin die Schüler auf, eine Seite mit Gedichten herauszureißen, weil der Dichter Frederik Rreshpja in Ungnade gefallen ist.
Die erste Erfahrung von Repression verbindet sich jedoch mit dem Schulzahnarzt, dem der Junge vergeblich zu entkommen sucht.
Doch der Terror wird im Lauf der Jahre immer sichtbarer: Da werden die Leichen zweier junger Männer, die beim Fluchtversuch nach Jugoslawien erschossen wurden, zur Abschreckung ausgestellt. Und bei zwei anderen, denen die Flucht gelang, werden ersatzweise die Familien verhaftet, deren Häuser beschlagnahmt und an treue Genossen vergeben.
Diese Ereignisse aber sind eingebettet in ein eher heiteres Parlando. Stefan Çapaliku verzichtet für seinen Erinnerungsbilderbogen auf eine sich entwickelnde Handlung und auf konturierte Hauptfiguren. Der Tonfall ist ohne literarische Ambitionen und stilistische Eitelkeiten, ist aber dem kindlichen Erleben durchaus angemessen.
Çapaliku schafft es auf diese Weise, den albanischen Alltag unter Enver Hoxha lebendig und verständlich zu machen. Der Diktator selbst kommt darin eigentlich nur als Gerücht vor. Einer der vielen Onkel ist nicht davon abzubringen, dass Hoxha längst tot sei und in einem Kühlschrank gelagert werde. Den, der bei Kundgebungen und Parteitagen auftritt, hält er für einen von dessen vielen Doppelgängern.

Feiner Roman

Das Buch endet 1985, als Enver Hoxha dann wirklich stirbt und mit ihm auch diese absurde, seltsam zurückgebliebene Epoche der Isolation zu Ende zu gehen beginnt.
In der letzten Szene scheint sich ein Wunder zu ereignen. Ein Alter, der seit Jahren erblindet im Bett liegt, behauptet, wieder sehen zu können, weil er sich einbildet, in der Kathedrale zu sitzen. Die Familie ist sich einig: Jeder wird verrückt auf seine Art. Doch erst jetzt, nach dem Tod des Diktators, wird die Verrücktheit zum ersten Mal thematisiert. Die Verrücktheit der Verhältnisse war ja bis dahin normal.
Çapalikus feiner Roman lässt das auf bescheidene, sympathische Weise spürbar werden.