"Jedes Wort ist ja wie ein Stein"
Vor 34 Jahren kam Yoko Tawada nach Deutschland, und schon 20 Bücher hat sie in der Fremdsprache geschrieben. Die japanische Schriftstellerin ist fasziniert von den Lauten und der Grammatik des Deutschen.
Stephan Karkowsky: Wer mit Humor eine fremde Sprache lernt, der kommt oft auf Ideen, die ein Muttersprachler gar nicht hätte. Die in Tokio geborene Lyrikerin Yoko Tawada hat diesen fremden Blick auf Deutsche zur Meisterschaft getrieben, und deshalb freue ich mich ganz besonders, sie heute begrüßen zu dürfen im Lyriksommer 2013. Frau Tawada, guten Morgen.
Yoko Tawada: Guten Morgen.
Karkowsky: Vor über 30 Jahren kamen Sie nach Deutschland. Können Sie noch sagen, wie das war, wie die Melodie des Deutschen damals auf Sie gewirkt hat im Vergleich zur Melodie des Japanischen?
Tawada: Ja, am Anfang habe ich überhaupt nichts verstanden, also die geschriebene Sprache Deutsch, die habe ich verstanden. Aber wenn jemand was gesagt hat zu mir, habe ich nichts verstanden, das war noch nicht eine Melodie, sondern eine – ja, was ist das? – eine Masse, Mehl oder so, die ich nicht auseinandernehmen konnte. Und das wundert mich eigentlich, weil heute höre ich besonders klar die Trennung zwischen Wörtern. Aber jedes Wort ist ja wie ein Stein in der deutschen Sprache für mich heute. Und wie kam es, dass es so wie eine Breimasse auf mich wirkte?
Karkowsky: Jedes Wort ist wie ein Stein, was heißt das genau? Weil die Worte so eckig und kantig sind im Deutschen?
Tawada: Ja, nein, also eckig und kantig – nein, das ist eher, dass jedes Wort sich behauptet, so eine Präsenz hat, auch ein kleines Wort wie eine Präposition oder ein Artikel, sie könnten sehr wichtig werden und sehr kraftvoll auch.
Karkowsky: Besonders hat es Ihnen die deutsche Grammatik angetan, und ich finde, das haben Sie auf den Punkt gebracht in Ihrem Gedicht "Die zweite Person", das ist sehr schön, das einmal von Ihnen selbst zu hören.
Tawada: Die zweite Person. Du hast ein Geschlecht. Du hat kein Genus. Du da – meinst du mich? Ja! Dann ist dein Du heute weiblich. Ich hat kein Genus. Und das ist ein Genuss für mich. Ich, sagt mein Freund, der einen Freund hat. Er ist ein Ich, wenn sein Mund sich bewegt. Er ist ein Du, wenn seine Ohren mir zuhören. Egal ob dich eine Sie oder ein Er lieben, immer bist du eine zweite Person und geschlechtslos.
Yoko Tawada: Guten Morgen.
Karkowsky: Vor über 30 Jahren kamen Sie nach Deutschland. Können Sie noch sagen, wie das war, wie die Melodie des Deutschen damals auf Sie gewirkt hat im Vergleich zur Melodie des Japanischen?
Tawada: Ja, am Anfang habe ich überhaupt nichts verstanden, also die geschriebene Sprache Deutsch, die habe ich verstanden. Aber wenn jemand was gesagt hat zu mir, habe ich nichts verstanden, das war noch nicht eine Melodie, sondern eine – ja, was ist das? – eine Masse, Mehl oder so, die ich nicht auseinandernehmen konnte. Und das wundert mich eigentlich, weil heute höre ich besonders klar die Trennung zwischen Wörtern. Aber jedes Wort ist ja wie ein Stein in der deutschen Sprache für mich heute. Und wie kam es, dass es so wie eine Breimasse auf mich wirkte?
Karkowsky: Jedes Wort ist wie ein Stein, was heißt das genau? Weil die Worte so eckig und kantig sind im Deutschen?
Tawada: Ja, nein, also eckig und kantig – nein, das ist eher, dass jedes Wort sich behauptet, so eine Präsenz hat, auch ein kleines Wort wie eine Präposition oder ein Artikel, sie könnten sehr wichtig werden und sehr kraftvoll auch.
Karkowsky: Besonders hat es Ihnen die deutsche Grammatik angetan, und ich finde, das haben Sie auf den Punkt gebracht in Ihrem Gedicht "Die zweite Person", das ist sehr schön, das einmal von Ihnen selbst zu hören.
Tawada: Die zweite Person. Du hast ein Geschlecht. Du hat kein Genus. Du da – meinst du mich? Ja! Dann ist dein Du heute weiblich. Ich hat kein Genus. Und das ist ein Genuss für mich. Ich, sagt mein Freund, der einen Freund hat. Er ist ein Ich, wenn sein Mund sich bewegt. Er ist ein Du, wenn seine Ohren mir zuhören. Egal ob dich eine Sie oder ein Er lieben, immer bist du eine zweite Person und geschlechtslos.
"Im Japanischen ist alles ziemlich anders"
Karkowsky: Großartig! Wie ist das denn im Japanischen, wird da in der Anrede immer gleich das Geschlecht des Gegenübers mitbestimmt?
Tawada: Nein. Im Japanischen ist alles ziemlich anders, Personalpronomen gibt es nicht, genau genommen. Und natürlich spielen ganz viele Sachen eine Rolle, wie höflich man sein möchte, in welcher Situation man redet, alles, und daher gibt es ganz viele Wörter, und Geschlecht könnte auch eine Rolle spielen. Aber das ist nicht so entscheidend.
Karkowsky: Gibt es denn das, was wir du und ich nennen, also die erste Person Singular, die zweite Person Singular, gibt es das genau so im Japanischen?
Tawada: Nein, das gibt es nicht.
Karkowsky: Wie reden Sie sich denn an?
Tawada: Die zweite Person wird nicht ausgesprochen. Die erste auch nicht, eigentlich, man sagt nicht: Ich sage dir, sondern in dem Moment, wo man ich sagt auf Japanisch, sagt man dieses Wort nicht, sondern man ist mit seinem Bewusstsein bei sich, und das spürt man, das muss man nicht aussprechen. Und dann, ich – was weiß ich – gebe dir dieses Buch, dieses Dir wird auch in dem Moment, wird aus dem Körper, diese Geste, es muss ja nicht konkret eine körperliche Geste sein, aber irgendwas Unsichtbares, vielleicht so was wie ein C, es fliegt von mir zu dir, und in dem Moment muss man auch nicht Dir sagen, es wird auch nicht gesagt. Vieles wird nicht gesagt, aber es ist ganz klar. Manche japanische Linguisten sprechen von dem Übergang zwischen der sprachlichen Person oder von der gespürten, gefühlten Person zu der ausgesprochenen linguistischen Person. Dieser Übergang ist sehr fließend.
Karkowsky: Sie hören Yoko Tawada im Lyriksommer 2013 im Deutschlandradio Kultur. Frau Tawada, ich finde, dazu passt auch Ihr Gedicht "Die zweite Person Ich". Auch das würden wir gerne hören, und das lasse ich mir dann auch von Ihnen erklären.
Tawada: Die zweite Person Ich. Als ich dich noch siezte, sagte ich ich und meinte damit mich. Seit gestern duze ich dich, weiß aber noch nicht, wie ich mich umbenennen soll.
Karkowsky:Das lässt sich natürlich erklären aus dem, was Sie mir gerade erzählt haben, dass, wenn jemand ein Buch gibt, dann gibt er das Buch, und es ist nicht wichtig, dass er es mir gibt, sondern es ist wichtig, dass er gibt, richtig? Mit dem Ich ist es so ähnlich.
Tawada: Ja, genau, und vor allem die Richtung des Gebens, das kommt ja aus dem Körper heraus, das spürt man, auch wenn man das nicht ausspricht. Und in diesem Gedicht habe ich mir auch gedacht: Komisch, es gibt ja Beziehungen zwischen zwei Menschen, also es ist ja nicht einseitig, es ist die Beziehung. Wenn das Wort Du von Sie zu Du ändert, dann muss ich auch zu etwas ändern, das geht ja nicht, dass man einseitig etwas ändert, und ich bleibt immer ich. Das ist doch komisch.
Karkowsky: Sie haben mehr als 20 Bücher auf Deutsch geschrieben. Sind Sie eigentlich, wenn Sie Japanisch schreiben, eine andere Person?
Tawada: Früher war ich ziemlich anders, glaube ich. Das heißt, vor 20 Jahren habe ich unterschiedliche Bücher geschrieben, Schreibweisen waren auch anders. Aber heute werden sie nicht ähnlich, aber bilden gemeinsam ein Buch, das es nicht gibt. Also wenn ich ein Buch auf Deutsch schreibe und parallel dazu ein japanisches Buch – auf den ersten Blick haben sie nichts miteinander zu tun vielleicht. Aber für mich ergänzen sie sich gegenseitig.
Karkowsky:Gibt es denn Themen, über die Sie nur in der einen oder anderen Sprache schreiben würden, zum Beispiel die Liebe?
Tawada: Also die Liebe – ich wollte nie über die Liebe schreiben, aber die kommt ja überall vor, egal, ob ich das will oder nicht, insofern in beiden Sprachen. Und über die deutsche Grammatik habe ich essayistisch auf Japanisch auch geschrieben, aber jetzt in der Gedichtform nur auf Deutsch bis jetzt. Das konnte ich kürzer fassen, weil man nichts erklären muss, also nicht sehr viel erklären muss, so viele Unterschiede gibt es schon.
Karkowsky: Das wäre sehr schwierig, die deutsche Grammatik, deren Eigenarten auf japanisch zu erklären, oder?
Tawada: Ja, genau, da müsste ich ja erst seitenlang erklären und dann etwas sagen. Das auf jeden Fall kann ich nicht in kurzen Gedichten erfassen.
Tawada: Nein. Im Japanischen ist alles ziemlich anders, Personalpronomen gibt es nicht, genau genommen. Und natürlich spielen ganz viele Sachen eine Rolle, wie höflich man sein möchte, in welcher Situation man redet, alles, und daher gibt es ganz viele Wörter, und Geschlecht könnte auch eine Rolle spielen. Aber das ist nicht so entscheidend.
Karkowsky: Gibt es denn das, was wir du und ich nennen, also die erste Person Singular, die zweite Person Singular, gibt es das genau so im Japanischen?
Tawada: Nein, das gibt es nicht.
Karkowsky: Wie reden Sie sich denn an?
Tawada: Die zweite Person wird nicht ausgesprochen. Die erste auch nicht, eigentlich, man sagt nicht: Ich sage dir, sondern in dem Moment, wo man ich sagt auf Japanisch, sagt man dieses Wort nicht, sondern man ist mit seinem Bewusstsein bei sich, und das spürt man, das muss man nicht aussprechen. Und dann, ich – was weiß ich – gebe dir dieses Buch, dieses Dir wird auch in dem Moment, wird aus dem Körper, diese Geste, es muss ja nicht konkret eine körperliche Geste sein, aber irgendwas Unsichtbares, vielleicht so was wie ein C, es fliegt von mir zu dir, und in dem Moment muss man auch nicht Dir sagen, es wird auch nicht gesagt. Vieles wird nicht gesagt, aber es ist ganz klar. Manche japanische Linguisten sprechen von dem Übergang zwischen der sprachlichen Person oder von der gespürten, gefühlten Person zu der ausgesprochenen linguistischen Person. Dieser Übergang ist sehr fließend.
Karkowsky: Sie hören Yoko Tawada im Lyriksommer 2013 im Deutschlandradio Kultur. Frau Tawada, ich finde, dazu passt auch Ihr Gedicht "Die zweite Person Ich". Auch das würden wir gerne hören, und das lasse ich mir dann auch von Ihnen erklären.
Tawada: Die zweite Person Ich. Als ich dich noch siezte, sagte ich ich und meinte damit mich. Seit gestern duze ich dich, weiß aber noch nicht, wie ich mich umbenennen soll.
Karkowsky:Das lässt sich natürlich erklären aus dem, was Sie mir gerade erzählt haben, dass, wenn jemand ein Buch gibt, dann gibt er das Buch, und es ist nicht wichtig, dass er es mir gibt, sondern es ist wichtig, dass er gibt, richtig? Mit dem Ich ist es so ähnlich.
Tawada: Ja, genau, und vor allem die Richtung des Gebens, das kommt ja aus dem Körper heraus, das spürt man, auch wenn man das nicht ausspricht. Und in diesem Gedicht habe ich mir auch gedacht: Komisch, es gibt ja Beziehungen zwischen zwei Menschen, also es ist ja nicht einseitig, es ist die Beziehung. Wenn das Wort Du von Sie zu Du ändert, dann muss ich auch zu etwas ändern, das geht ja nicht, dass man einseitig etwas ändert, und ich bleibt immer ich. Das ist doch komisch.
Karkowsky: Sie haben mehr als 20 Bücher auf Deutsch geschrieben. Sind Sie eigentlich, wenn Sie Japanisch schreiben, eine andere Person?
Tawada: Früher war ich ziemlich anders, glaube ich. Das heißt, vor 20 Jahren habe ich unterschiedliche Bücher geschrieben, Schreibweisen waren auch anders. Aber heute werden sie nicht ähnlich, aber bilden gemeinsam ein Buch, das es nicht gibt. Also wenn ich ein Buch auf Deutsch schreibe und parallel dazu ein japanisches Buch – auf den ersten Blick haben sie nichts miteinander zu tun vielleicht. Aber für mich ergänzen sie sich gegenseitig.
Karkowsky:Gibt es denn Themen, über die Sie nur in der einen oder anderen Sprache schreiben würden, zum Beispiel die Liebe?
Tawada: Also die Liebe – ich wollte nie über die Liebe schreiben, aber die kommt ja überall vor, egal, ob ich das will oder nicht, insofern in beiden Sprachen. Und über die deutsche Grammatik habe ich essayistisch auf Japanisch auch geschrieben, aber jetzt in der Gedichtform nur auf Deutsch bis jetzt. Das konnte ich kürzer fassen, weil man nichts erklären muss, also nicht sehr viel erklären muss, so viele Unterschiede gibt es schon.
Karkowsky: Das wäre sehr schwierig, die deutsche Grammatik, deren Eigenarten auf japanisch zu erklären, oder?
Tawada: Ja, genau, da müsste ich ja erst seitenlang erklären und dann etwas sagen. Das auf jeden Fall kann ich nicht in kurzen Gedichten erfassen.
"Am Anfang nimmt man alles an"
Karkowsky: Nun ist Ihr Lyrikband "Abenteuer der deutschen Grammatik" erst 2010 erschienen. Ich hätte gedacht, über die Grammatik einer neuen Sprache stolpert man vor allem am Anfang, bis man ihre Fallstricke gar nicht mehr bemerkt. Oder sind es schon ältere Gedichte, die da drin stehen?
Tawada: Ich glaube, das ist genau umgekehrt. Am Anfang nimmt man alles an und man lernt. Das heißt, so wie man etwas ist, nimmt man es in sich ein, und man wundert sich nicht, sondern man macht das einfach so. Und Jahre später … aber das macht nicht jeder, sondern nur bestimmte Leute blicken zurück und denken, eigentlich habe ich mich gewundert, ganz kurz, und das habe ich verdrängt, aber warum war das denn eigentlich so. Und diese Fähigkeit hat man erst viel, viel später, nicht im Prozess des Lernens. Das ist unmöglich.
Karkowsky: Und wer wie Sie Deutsch als Fremdsprache gelernt hat, kennt sich oft sehr viel besser aus mit der Grammatik als ein Muttersprachler, der die einzelnen grammatikalischen Finessen gar nicht benennen kann, und dafür würde ich gerne noch mal ein Gedicht von Ihnen hören, das heißt "Vor einem hellen Vokal".
Tawada: Vor einem hellen Vokal. Gleich werde ich meinen Bauch zeigen und tanzen an einem Teich, wo eine deutsche Eiche steht. Ein gottloses Buch werde ich euch schreiben und steige hoch auf den Galgen. Ich bin ein fliegender Teppich mit einem Kopftuch. So ein Pech. Kann ich fliehen? Kennst du das Land CH? Die Lesart der heiligen Schriftzeichen C und H bleibt weiter offen.
Karkowsky: Ich gestehe, ich musste erst mal im Internet nachschlagen, was es überhaupt auf sich hat mit den hellen und dunklen Vokalen vor einem CH in der deutschen Sprache. Können Sie es erklären?
Tawada: Ja, wenn man Deutsch lernt, ist es ganz schwierig zu wissen, wie CH ausgesprochen wird, weil das so unterschiedlich ist. In dem Wort "ich" ist das CH und im "Buch" CH, und auch CH, und das merkt man vielleicht nicht, wenn man als Muttersprache Deutsch spricht, aber es ist ganz schwierig. Und in Grammatikbüchern wird es erklärt, es kommt drauf an, ob dieses CH vor einem hellen oder dunklen Vokal steht.
Karkowsky: Haben Sie denn den Eindruck, dass die Lyrik, die Sie in Japan vortragen, genau so ankommt wie hier, oder gehen die Leute aus einem anderen Grund in Ihre Lesungen zum Beispiel?
Tawada: Ich glaube, in der deutschen Sprache stehen die Dichtung und die Philosophie sehr nahe aneinander. Und das ist, finde ich auch, sehr spannend. Das ist halt Denken mit Dichten zusammen, das ist dann, das erlaubt auch diese Sprache, und das hat auch diese Geschichte, das ist sehr vorteilhaft. Die japanischen Gedichte haben eine ganz andere Tradition, da ist es nicht das logische Denken, was als Nachbarschaft der Dichtung steht, sondern etwas anderes.
In der Haiku-Dichtung, was ja nur eine Form der vielen Formen ist, aber trotzdem eine wichtige Form, da ist es das Japanische quasi, das heißt, eine Welt ohne Ich, also Dichter als Ich, der die Welt wahrnimmt und die Welt oder die Natur, die wahrgenommen wird, diese Trennung nicht mehr existiert, dass es vollkommen verschwindet. Ich meine, die japanische Sprache tendiert zwar dazu, aber in der Alltagssprache gibt es immer noch natürlich die Menschen, die etwas machen und sehen, und die Dinge, die gesehen werden. Aber das braucht man gar nicht mehr, wenn man ganz extrem in diesen Bereich der Haiku hineintritt. Und das ist das Spannende.
Karkowsky: Sie hörten im Lyriksommer 2013 die in Tokio geborene Lyrikerin Yoko Tawada. Ihnen herzlichen Dank, dass Sie bei uns waren.
Tawada: Vielen Dank.
Karkowsky: Und mehr Lyriksommer gibt es heute Abend um 19.30 Uhr in unserer Literatursendung unter dem Titel "Ich denke die Poesie dreidimensional". Clarisse Cossais stellt Ihnen dann die Dichterin und Performancekünstlerin Michelle Métail vor.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Tawada: Ich glaube, das ist genau umgekehrt. Am Anfang nimmt man alles an und man lernt. Das heißt, so wie man etwas ist, nimmt man es in sich ein, und man wundert sich nicht, sondern man macht das einfach so. Und Jahre später … aber das macht nicht jeder, sondern nur bestimmte Leute blicken zurück und denken, eigentlich habe ich mich gewundert, ganz kurz, und das habe ich verdrängt, aber warum war das denn eigentlich so. Und diese Fähigkeit hat man erst viel, viel später, nicht im Prozess des Lernens. Das ist unmöglich.
Karkowsky: Und wer wie Sie Deutsch als Fremdsprache gelernt hat, kennt sich oft sehr viel besser aus mit der Grammatik als ein Muttersprachler, der die einzelnen grammatikalischen Finessen gar nicht benennen kann, und dafür würde ich gerne noch mal ein Gedicht von Ihnen hören, das heißt "Vor einem hellen Vokal".
Tawada: Vor einem hellen Vokal. Gleich werde ich meinen Bauch zeigen und tanzen an einem Teich, wo eine deutsche Eiche steht. Ein gottloses Buch werde ich euch schreiben und steige hoch auf den Galgen. Ich bin ein fliegender Teppich mit einem Kopftuch. So ein Pech. Kann ich fliehen? Kennst du das Land CH? Die Lesart der heiligen Schriftzeichen C und H bleibt weiter offen.
Karkowsky: Ich gestehe, ich musste erst mal im Internet nachschlagen, was es überhaupt auf sich hat mit den hellen und dunklen Vokalen vor einem CH in der deutschen Sprache. Können Sie es erklären?
Tawada: Ja, wenn man Deutsch lernt, ist es ganz schwierig zu wissen, wie CH ausgesprochen wird, weil das so unterschiedlich ist. In dem Wort "ich" ist das CH und im "Buch" CH, und auch CH, und das merkt man vielleicht nicht, wenn man als Muttersprache Deutsch spricht, aber es ist ganz schwierig. Und in Grammatikbüchern wird es erklärt, es kommt drauf an, ob dieses CH vor einem hellen oder dunklen Vokal steht.
Karkowsky: Haben Sie denn den Eindruck, dass die Lyrik, die Sie in Japan vortragen, genau so ankommt wie hier, oder gehen die Leute aus einem anderen Grund in Ihre Lesungen zum Beispiel?
Tawada: Ich glaube, in der deutschen Sprache stehen die Dichtung und die Philosophie sehr nahe aneinander. Und das ist, finde ich auch, sehr spannend. Das ist halt Denken mit Dichten zusammen, das ist dann, das erlaubt auch diese Sprache, und das hat auch diese Geschichte, das ist sehr vorteilhaft. Die japanischen Gedichte haben eine ganz andere Tradition, da ist es nicht das logische Denken, was als Nachbarschaft der Dichtung steht, sondern etwas anderes.
In der Haiku-Dichtung, was ja nur eine Form der vielen Formen ist, aber trotzdem eine wichtige Form, da ist es das Japanische quasi, das heißt, eine Welt ohne Ich, also Dichter als Ich, der die Welt wahrnimmt und die Welt oder die Natur, die wahrgenommen wird, diese Trennung nicht mehr existiert, dass es vollkommen verschwindet. Ich meine, die japanische Sprache tendiert zwar dazu, aber in der Alltagssprache gibt es immer noch natürlich die Menschen, die etwas machen und sehen, und die Dinge, die gesehen werden. Aber das braucht man gar nicht mehr, wenn man ganz extrem in diesen Bereich der Haiku hineintritt. Und das ist das Spannende.
Karkowsky: Sie hörten im Lyriksommer 2013 die in Tokio geborene Lyrikerin Yoko Tawada. Ihnen herzlichen Dank, dass Sie bei uns waren.
Tawada: Vielen Dank.
Karkowsky: Und mehr Lyriksommer gibt es heute Abend um 19.30 Uhr in unserer Literatursendung unter dem Titel "Ich denke die Poesie dreidimensional". Clarisse Cossais stellt Ihnen dann die Dichterin und Performancekünstlerin Michelle Métail vor.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.