Jehuda Amichai: "Offen Verschlossen Offen", Gedichte
Ausgewählt und mit einem Nachwort von Ariel Hirschfeld.
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer und anderen
Jüdischer Verlag/Suhrkamp, Berlin 2020
155 Seiten, 25 Euro
Die Stimme des Menschen in Gedichten
06:22 Minuten
Immer wieder spielt Jehuda Amichai in seinen Gedichtband "Offen Verschlossen Offen" auf Texte in der Thora an. Auch in der säkularen Sphäre schafft er einen tiefen Assoziationsraum. "Nur eine Kostprobe" sollen diese Gedichte sein.
Jehuda Amichai ist einer der ganz großen Lyriker Israels. Vielfach ausgezeichnet, in 40 Sprachen übersetzt. Einer, der seinen Erfahrungen als Israeli und Jude eine sprachliche Form zu verleihen weiß, die Menschen weltweit erreicht. Einer, dessen Themen universell sind.
Nach seinem Tod vor 20 Jahren ist Jehuda Amichai ein wenig in Vergessenheit geraten. In seiner Heimat Israel ebenso wie in seinem Herkunftsland Deutschland. Nun ist ein Band erschienen, der wieder zur Lektüre seiner Lyrik aufruft.
Verse Amichais am Obersten Gerichtshof
1924 in Würzburg als Ludwig Pfeuffer geboren, rettete ihm die Auswanderung seiner orthodoxen Familie das Leben. Elfjährig übersiedelte er aus der fränkischen Barockmetropole nach Petach Tikwa, in eine der ersten bäuerlichen Siedlungen Palästinas. Zwei Jahre später nach Jerusalem. Dort starb im Jahr 2000 Ludwig Pfeuffer, der mit Anfang 20 den Namen Jehuda Amichai angenommen hatte - in der Hauptstadt des ersten jüdischen Staates, in einem Land, für dessen Unabhängigkeit er als Soldat gekämpft und dessen Poesie er als Dichter nachhaltig erneuert hatte.
"An dem Ort, an dem wir recht haben / werden niemals Blumen wachsen / im Frühjahr." Diese Verse Amichais wurden sogar in einer Urteilsbegründung des israelischen Obersten Gerichtshofs zitiert.
Amichai schrieb und beschrieb ein halbes Jahrhundert, doch die jetzt vorliegenden knapp einhundert Gedichte wollen von seinem lyrischen Gesamtwerk nur "anregende Kostprobe sein", so der Herausgeber von "Offen Verschlossen Offen". Was aber, wenn man danach Hunger bekommt auf mehr?
Mal traurig, mal ironisch, mal lakonisch
Amichais Herkunft aus religiösem Elternhaus hallt wie ein Echo in der einfachen, konkreten Dingen und Situationen zugewandten Alltagssprache seiner Lyrik nach. Immer wieder spielt er an auf Texte der Tora, liest sie gegen den Strich. Gibt ihren Bildern und Symbolen neue Bedeutung.
"Wer sich früher in seinen Gebetsschal hüllte, vergisst es nie mehr / wenn er aus dem Pool kommt oder aus dem Meer / sich in das große Handtuch hüllt …"
Amichai erzeugt so auch in der säkularen Sphäre einen tiefen Assoziationsraum und die für ihn typische "weltliche Spiritualität". Dabei hört man die Stimme eines Menschen, der zwischen Geschichte, Erfahrung und Hoffnung das Leben zu begreifen sucht, mal traurig, mal ironisch, lakonisch, zärtlich und nachdenklich, nie aber sentimental.
Zyklus von Liebesgedichten
Die überwiegende Anzahl der Gedichte dieses zu schmalen Bändchens hat die verdiente Anne Birkenhauer übersetzt. Zurückgegriffen aber wurde auch auf solche, die seit Langem vorliegen und in anderen Anthologien bzw. im letzten von Amichai zu Lebzeiten veröffentlichen Band "Zeit" erschienen sind. Sie werden hier noch einmal abgedruckt.
Es gibt einen kleinen Zyklus von Liebesgedichten, "Sechs Lieder für Thamar", die Amichai für seine erste Frau schrieb. Abgedruckt sind aber nur vier. Kostprobe eben. Fünf andere Gedichte hingegen sind doppelt gedruckt, einmal noch an ihrer Seite das hebräische Original.
Thematische Ordnung wäre hilfreich gewesen
Es gibt keine Datierung der einzelnen Gedichte anhand derer man eine Entwicklung von Amichais Sprache oder der dichterischen Motive nachvollziehen könnte. Nur die Angabe, sie seien im Zeitraum zwischen den späten 1940er-Jahren und 1998 entstanden.
Es wäre hilfreich gewesen, so bescheiden die Auswahl auch ist, sie thematisch zu ordnen – Liebe, Krieg, Shoah, die Stadt Jerusalem, der Umgang mit Erinnerungen und Identität, all das versammelt sich hier recht unvermittelt.