Tragödie im Jemen

Keine Empathie im Rest der Welt

23:59 Minuten
Auf einer dürr anmutenden Fläche in den Bergen stehen einfachste Zelte und Zelte aus Folien. Davor sind in der Entfernung Kinder und Erwachsene zu erkennen.
Kinder vor ihren Unterkünften in einem Lager für Binnenvertriebene: Mehr als eine halbe Million Kinder befinden sich im Jemen durch den Hunger in akuter Lebensgefahr. © Getty Images / Mohammed Hamoud
Von Anna Osius |
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Der vergessene Krieg im Jemen hat in acht Jahren unvorstellbares Elend angerichtet. Familien müssen abwägen: Bezahlen sie mit ihrem wenigen Geld den Transport des todkranken Kindes in die Klinik oder kaufen sie davon Brot für den Rest der Familie?
Der Wind fegt über die karge, wüstengleiche Landschaft, Zelte flattern wie grau-weiße Fahnen in der Einöde. Bilder zeigen: Es ist Winter geworden im Jemen – und der trifft die durch den Krieg vertriebenen Menschen besonders hart.
Samirah ist eine von ihnen: Die junge Mutter lebt mit ihrer Familie mitten in einem der Flüchtlingslager nahe der Hauptstadt Sanaa, die Zelte stehen dicht an dicht auf der festgestampften Erde. Drinnen haben sie notdürftig versucht, sich mit Tüchern und Kissen so etwas wie ein Zuhause einzurichten, aber bei Regen schwimmt alles davon.
„Wir haben Angst vor dem Regen, denn die Zelte im Camp sind nicht dicht. Es regnet einfach durch. In diesen kalten Tagen haben wir noch nicht mal einen Ort zum Schlafen, keine Decken oder Betten“, erzählt sie.

„Wir sind so schwach“

Ihre Nachbarin Saba zeigt die dünnen Beinchen ihrer jüngsten Tochter. Niemand hier hat genug zu essen, um satt zu werden. Ihre Kinder haben zusammengesuchte Mützen auf dem Kopf, aber für Schuhe hat das Geld nicht gereicht, die Füße sind nackt.
„Wir brauchen Hilfe während der Regenzeit, wir brauchen Betten, Decken. Wir sind so schwach. Ich bin eine Witwe mit fünf Kindern. Nur Gott weiß, wie schwer unser Leben ist.“, sagt sie.
Vor allem die Kinder sind von der Krise im Jemen dramatisch betroffen: Viele leiden an akuter Unterernährung. Aber die Hilfe, die gebraucht wird, kommt nicht an. In Jemens Hauptstadt Sanaa liegt das Al Shabeen Krankenhaus mit einer Station für unterernährte Kinder. Das Krankenhaus ist völlig überfüllt.
Doktor Gamal Sharafalddin sieht das tägliche Leid, den Kampf der halb verhungerten Kinder gegen den Tod. So wie beim Jungen Mokhtar. Der Zweijährige wiegt so viel wie manches deutsches Baby bei der Geburt, erklärt er.

Das Kind ist zwei Jahre alt und wiegt viereinhalb Kilo. Als wir ihn zur Untersuchung ausgezogen haben, mussten wir sehen, wie ausgezehrt sein Körper ist. Etwas länger in diesem Zustand und sein Gehirn würde zusammenschrumpfen, so dass seine Nerven und Gliedmaßen gelähmt wären. Das ist Tragödie der Kinder des Jemens. Die schweren Lebensbedingungen, die steigenden Lebensmittelpreise führen zu dieser Situation.

Gamal Sharafalddin, Arzt

Doktor Gamal weiß schon bald nicht mehr, wo er die kleinen Patienten noch unterbringen soll. Täglich kommen neue schwere Fälle dazu – bis zu 100 am Tag. Er hat noch nicht mal genügend Spezialmilch, um die Babys und Kleinkinder fachgerecht aufzupäppeln, klagt der Arzt.

Dem Tod näher als dem Leben

„Die Spezialmilch ist nur schwer zu bekommen. Deshalb müssen wir manchmal die Patienten nach Hause schicken, bevor sie das Normgewicht erreicht haben“, erklärt er. „Das ist tragisch. Die Milch ist so wichtig für die Kinder. Wir hoffen, dass uns internationale Organisationen helfen, das Milchpulver zu bekommen.“
Es sei eine Tragödie, sagt Doktor Gamal. Oft wisse er nicht, wo er die Kinder noch unterbringen soll. „Wir müssen sie zurückschicken, weil wir keine freien Betten haben!“
Shama hat noch ein freies Bett bekommen. Das zweijährige Mädchen steht dem Tod näher als dem Leben. Die Augen leicht trüb und zu groß in dem ausgezehrten Gesicht. Jede Rippe am Brustkorb ist zu sehen, die Haut wie Papier, dünne Ärmchen und Beine.
Durch den Hunger ist der kleine Körper anfällig für Infekte geworden. Die Mutter ruft verzweifelt. „Wir können nicht mehr!“
Ein paar Zimmer weiter versuchen die Eltern, ihren winzigen Sohn Ayham anzuziehen. Der Eineinhalbjährige sieht aus wie ein Baby, der Bauch ist überdimensional aufgebläht, die Augen verdreht. Ayham liegt seit seiner Geburt im Koma – vermutlich als Folge von Unterversorgung.
Schnell wird klar: Die Wahrscheinlichkeit, dass Ayham, Shama und die anderen kleinen Mitpatienten jemals ein Leben ohne geistige Behinderung führen können, ist gering. Der Hunger, die Mangelernährung hat sie dauerhaft geschädigt.

„Das ist wirklich eine verlorene Generation“

Das prophezeite Christa Rottensteiner, jahrelange Leiterin der Jemen-Mission der International Organisation of Migration (IOM) schon vor Monaten.
„Was mich als Mutter besonders bestürzt, ist, dass die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren ein so verkümmertes Wachstum haben, dass man es nicht mehr rückholen kann. Das heißt, sie werden geistig und körperlich nicht mehr aufholen können. Das ist wirklich eine verlorene Generation“, sagt sie.
Mehr als eine halbe Million Kinder befinden sich im Jemen durch den Hunger in akuter Lebensgefahr, meldet das Kinderhilfswerk Unicef. 2,2 Millionen Kinder leiden unter massiver Mangelernährung. Die Vereinten Nationen bezeichneten die Lage im Jemen als schlimmste humanitäre Krise der Welt.
Hilfsorganisationen versuchen, die Not zu lindern, aber es sind 23 Millionen Menschen im Jemen, die dringend Hilfe benötigen. Zwei Drittel der Bevölkerung.
Bild eines Friedhofes im Jemen. Die Gräber sind mit Portraits der Verstorbenen versehen.
Ein Friedhof mit Gräbern von Jemeniten, die während des Krieges ihr Leben verloren haben: Seit 2014 kämpfen die Truppen des ehemaligen Präsidenten Hadi gegen die Huthi-Rebellen.© Getty Images / Mohammed Hamoud
Im Jemen kämpfen die Truppen des ehemaligen Präsidenten Hadi gegen die Huthi-Rebellen, die das Land 2014 überrannten. Eine Militärkoalition unter Führung Saudi-Arabiens unterstützt die Regierungstruppen, fliegt seit 2015 Luftangriffe. Die Huthis wiederum erhalten Hilfe aus dem Iran.

Leidtragende eines Stellvertreterkrieges

Daher gilt der Jemen-Konflikt auch als Stellvertreterkrieg der beiden großen Gegenspieler der Region – Saudi-Arabien gegen Iran. Das sei etwas zu kurz gegriffen, meint Jemen-Expertin Mareike Transfeld vom Yemen Policy Center. "Die jemenitischen Konfliktparteien haben auch ein eigenes Interesse und besonders die Huthi-Rebellen folgen nicht eins zu eins den Interessen des Irans. Sie finanzieren sich auch zu einem großen Teil selbst durch Steuereinnahmen in den von ihnen kontrollierten Gebieten".
Im Frühjahr vergangenen Jahres gab es seit Langem erstmals positive Meldungen aus dem Jemen: Die Kriegsparteien hatten sich auf eine zweimonatige Waffenruhe verständigt. Diese wurde in den folgenden Monaten unter Vermittlung der UN mehrmals verlängert. Doch im Oktober scheiterte der Versuch einer erneuten Verlängerung.
Der UN-Sondergesandte für den Jemen Hans Grundberg verhandelt aktuell mit allen Seiten.

Ich fordere die Parteien auf, nicht nur die Waffenruhe zu verlängern, sondern dringend Schritte zu unternehmen, um diesen Konflikt dauerhaft zu lösen. Wir brauchen einen politischen Prozess unter UN-Führung und je früher wir damit beginnen, desto größer sind die Chancen, die zerstörerischen Entwicklungen dieses Krieges zu beenden.

Hans Grundberg, UN-Sondergesandter

Mittlerweile gibt es wieder informelle Gespräche, der Oman fungiert als Vermittler zwischen den Kriegsparteien. Auch wenn es nicht zu einer offiziellen Verlängerung der Waffenruhe kam, so scheint es doch immerhin deutlich weniger Kämpfe zu geben als in den vergangenen Jahren. Doch die Ruhe ist fragil.
Vor dem UN-Sicherheitsrat gibt sich der saudische UN-Vertreter Abdel Aziz al Wasel trotz aller Verhandlungsbereitschaft kämpferisch.
„Ich möchte betonen, dass Saudi-Arabien internationale Bemühungen im Jemen unterstützt. Aber wir werden auch keine Gelegenheit auslassen, uns selbst zu verteidigen, wenn die Milizen unsere Sicherheit oder Interessen gefährden. Wir werden standhaft und stark antworten“, erklärt er.
„Wir erleben möglicherweise gerade einen Richtungswechsel in diesem achtjährigen Konflikt,“ glaubt und hofft UNO-Sondergesandte Hans Grundberg dennoch.

Signale für ein mögliches Abkommen

Mareike Transfeld vom Yemen Policy Center sieht ebenso Fortschritte, auch wenn sie noch klein sind: „Es gibt zu der Zeit direkte Gespräche zwischen den Saudis und den Huthis“, das allein sei schon positiv, so Transfeld. „Und es gibt auch schon Signale, dass es zu einem Abkommen kommen könnte.“ Allerdings sei die jemenitische Regierung derzeit nicht involviert.
Im Prinzip werde also eine Lösung verhandelt, die an der eigentlichen Souveränität des jemenitischen Staates vorbeigehe. „Dementsprechend wird man gucken müssen, inwiefern sich dieses Abkommen dann in eine wirkliche politische Lösung für den gesamten Jemen übersetzen lässt.“
Vorsichtige Hoffnung – in einem Land, das dringend Hilfe braucht: Durch den jahrelangen Bürgerkrieg ist das Land ausgelaugt, die Wirtschaft liegt am Boden. Viele Menschen sind arbeitslos, Beamte in den von den Huthis besetzten Gebieten bekommen teilweise kein Gehalt. Die Preise für Lebensmittel sind für viele unbezahlbar geworden. Strom, Wasser, medizinische Versorgung - all das gibt es in vielen ländlichen Gebieten nicht mehr.
Die Situation hat sich durch den Krieg in der Ukraine und die weltweite Versorgungskrise noch einmal verschlimmert. Die tatsächliche Zahl der Opfer des Krieges kennt niemand. Viele Familien sind seit Jahren innerhalb des Jemens auf der Flucht.
"Wir haben 4,3 Millionen Menschen, die innerhalb des Jemens durch die Gewalt vertrieben wurden. Viele von ihnen mussten bereits vier-, fünfmal fliehen – immer wenn die Gewalt näher rückte, mussten sie weiterziehen“, sagt Angela Well von der Internationalen Organisation für Migration IOM. „Sie brauchen dringend eine Infrastruktur, diese Menschen sind die Verletzlichsten, sie konnten sich nichts aufbauen, und das seit acht Jahren nicht.“

„Die Welt muss doch unsere Not sehen!"

Etwa 70 Kilometer südlich von Sanaa leben die Ärmsten der Armen – in einem der improvisierten Flüchtlingslager des Landes. Auf den ersten Blick mag man nicht glauben, dass unter den zusammenbastelten Haufen aus Decken, Stöcken und Pappkartons ganze Familien wohnen: Es sind selbst gebaute Zelte.
Frauen hocken auf dem staubigen Boden, waschen Wäsche in Schüsseln, kochen Wasser auf dem offenen Feuer. Überall liegt Müll. Und dazwischen die Kinder – kleine schmutzige Gestalten mit fragenden Augen und aufgeblähten Bäuchen. Die Söhne von Um Anas haben wurden gerade im Krankenhaus aufgepäppelt, weil sie akut unterernährt waren, erzählt die Mutter.

Wir wurden vor sieben Jahren vertrieben, meine Kinder haben Hunger und keiner hilft uns. Wir haben unseren Schmuck und alles verkauft, um unsere Kinder behandeln zu lassen, und wir haben bei der Apotheke Medikamente auf Kredit gekauft. Jetzt kann mein Mann sich dort nicht mehr blicken lassen, weil er die Medizin nicht bezahlen kann. Wir haben nichts mehr. Die Welt muss doch unsere Not sehen!

Um Anas, Mutter

Aber die Welt interessiert sich für den Konflikt im Jemen nur am Rande, erklärt Mareike Transfeld vom Yemen Policy Center.
"Man muss klar sagen, dass es besonders hier in Deutschland so ist, dass die Medien, aber auch die Politik recht wenig auf den Jemen blicken.
In den USA ist das anders. Allerdings unterstützt die USA auch Saudi-Arabien in dem Konflikt."
Die humanitäre Tragödie, die dieser Krieg angerichtet hat, ist unfassbar. Mutter Maryan im Flüchtlingscamp kann nicht mehr.
"Wir sitzen hier in der Kälte, wir haben keine Decken, keine Plastikplanen, keine Matratzen. Ich habe vier Kinder. Ein Kind ist bereits an Hunger gestorben. Einen Tag finden wir etwas zu essen, den nächsten nicht“, erzählt sie. „Wir haben noch nicht mal Zucker, ich zahle ein Vermögen für etwas Brot und das reicht nicht, um die Kinder sattzubekommen, die Kinder laufen durchs Camp und kämpfen um etwas Nahrung oder Zucker.“
Es mangelt an dringend benötigten Hilfsgeldern. Bislang sind die von der internationalen Gemeinschaft zugesagten Mittel nur in Teilen zusammengekommen.
Und das Elend hat noch eine weitere Dimension: So absurd es klingt: Jemen ist das Ziel vieler Migranten aus Afrika. Sie werden von Schleppern in Booten über den Golf von Aden geschleust, am Horn von Afrika mit golden Versprechungen gelockt: Weiterreise in die reichen Golfstaaten, tolle Jobchancen.

Viele Flüchtlinge stranden im Jemen

Doch die Mehrheit der bitterarmen Flüchtlinge strandet im Jemen – und sie werden im Bürgerkriegsland zu Rechtlosen. Rund 200.000 Migranten sind ebenfalls auf humanitäre Hilfe angewiesen.
In der Kinderstation im Krankenhaus von Sanaa auf der Station für unterernährte Kinder liegt auch Elaf. Die 5-Jährige ist abgemagert, wird langsam aufgepäppelt. Doch das Kind leide an Krämpfen, berichtet die Mutter.
„Sie wurde im Frühling krank, sie hatte Durchfall und übergab sich ständig. Nichts konnte sie mehr bei sich behalten“, erzählt sie. „Sie ist so dünn, dünn und weiß wie Papier. Sie hat Krämpfe, Tag und Nacht, wegen des Mangels an Kalzium. Hier geben sie ihr Kalzium und Krampflöser, dann schläft sie, bis sie wieder Krämpfe bekommt. Alle Medizin, die sie braucht, kaufen wir außerhalb.“
Doktor Haza Alfareh untersucht die Kleine, das Kind wirkt bei Bewusstsein, schläft aber immer wieder ein. Für den Arzt ein typischer Fall: „Wir bekommen hier 80 bis 100 Kinder am Tag. Dieser Patientin mangelt es am Eiweiß Albumin, Kalzium, Kalium und Vitamin D. All das sind schwerwiegende Folgen von akuter Unter- oder Mangelernährung.“ 
Während in den Nachbarländern gerade Millionen ausgegeben werden, um Fußballer einzukaufen, sterben die Menschen im Jemen still und weitgehend unbeachtet. Mit Elaf und den anderen Kindern bekommt die Krise ein Gesicht. Aber ob sich die Welt ihrer erbarmt, ist noch längst nicht ausgemacht.
Onlinetext: Ellen Häring
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