Jenny Erpenbeck: Kein Roman. Texte und Reden 1992-2018
Penguin Verlag, 2018
431 Seiten, 24 Euro
Das eigene Leben enträtseln
Es braucht, schreibt Jenny Erpenbeck, "das ganze eigene Leben, um das eigene Leben zu enträtseln". In "Kein Roman" reflektiert sie ihre Ost-Berliner Kindheit, die Wende und verbindet Privates mit Öffentlichem. Unbedingt lesenswert, findet unsere Kritikerin.
Eine solch interessante und politisch aufschlussreiche zeitgenössische Autobiografie liest man selten. Jenny Erpenbeck versteckt sie hinter dem Titel "Kein Roman". Ein Roman ist das Buch auch nicht. Es sind Texte und Reden aus den vergangenen 26 Jahren, gehalten als Dankesrede zu Preisverleihungen, geschrieben als "Bamberger Vorlesung", als offener Brief an einen Berliner Innensenator, als Nachruf.
Kindheit in Ost-Berlin
Immer wird ruft die Autorin, die 1999 mit der Novelle "Geschichte vom alten Kind" debütierte, in diesen Texten und Reden ihre Ost-Berliner Kindheit auf. Sie schaut aus ihrer Wohnung in Fenster auf der anderen Seite der Mauer. Sie zeigt auf die Ost-Berliner Kriegsruinen und die städtebaulichen Schneisen des jungen Staates DDR.
Sie beschreibt den Alltag mit dem Blick des beteiligten Forschers: Es braucht, schreibt sie, "das ganze eigene Leben, um das eigene Leben zu enträtseln". Also öffnet Jenny Erpenbeck in knappen Szenen das Leben der Mutter, des Vaters, beschreibt, was aus deren Leben, auch dem der Großeltern, ihr zugefallen ist. Sie verbindet Privates mit Öffentlichem, reflektiert politische Erosionen und die Folgen der Wiedervereinigung.
Das Unverständnis des Westens
"Kein Roman" ist ein vielthematischer, nicht von einem abstrakten "wir", sondern aus einer radikal subjektiven Position erzählter Lebensbericht. Keine Dankesrede ohne genaues Nachdenken über die eigene Position und über das Aufwachsen in der DDR.
Vieles, was der Westen an Unverständnis, Gedankenlosigkeit oder Hochmut dem anderen Deutschland entgegengebracht hat und -bringt, wird in den Texten diskutiert: "Riss es uns vorwärts oder rückwärts?" Fragen, die bis heute virulent sind.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Erpenbeck hat keine Klagetexte geschrieben, vielmehr Überlegungen und Versuche, die Gegenwart aus der Vergangenheit zu erklären. Auf diese Weise wachsen die für unterschiedliche Gelegenheiten verfassten Texte zu einer Lebens- und Zeitgeschichte gleichermaßen zusammen.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Erpenbeck hat keine Klagetexte geschrieben, vielmehr Überlegungen und Versuche, die Gegenwart aus der Vergangenheit zu erklären. Auf diese Weise wachsen die für unterschiedliche Gelegenheiten verfassten Texte zu einer Lebens- und Zeitgeschichte gleichermaßen zusammen.
"Wie viel kann man verlieren, ohne sich selbst zu verlieren?"
"Mein Schreiben", erläutert Jenny Erpenbeck, "begann mit den Nachdenken darüber, was Identität ist, und der Frage, wie viel man verlieren kann, ohne sich selbst zu verlieren."
Die Klugheit dieser Texte, die das Musik- und Kunstverständnis, die lebenszugewandte Art, die Fähigkeit zur Freundschaft und die Liebe zur Literatur zum Ausdruck bringen, ist unbedingt lesenswert. Mehr Weltverständnis lässt sich - vorgetragen mit unprätentiöser, heller Intelligenz - nicht so leicht finden.