Ein „klirrende Kälte“ war im Herbst 2023 spürbar nach den Terrorangriffen der radikalislamischen Hamas. Es gab kaum Solidaritätsbekundungen von Protagonisten der sogenannten „woken“ Bewegung, die angetreten ist, gesellschaftliche Missstände anzuprangern und Solidarität zu zeigen mit marginalisierten, an den Diskursrand gedrängten Gruppierungen.
Das dröhnende Schweigen der Club-Szene
Augenscheinlich endete diese Solidarität, selbst mit vergewaltigten, verschleppten, misshandelten Frauen, wenn diese einen israelischen Pass haben: „#MeToo unless you’re a Jew“ wurde in jenen Tagen zum geflügelten Wort. Nach den Terrorangriffen vom 7. Oktober drehte nicht einmal die progressive Clubszene ihre Verstärker auf – obwohl das israelische Supernova-Festival angegriffen und 365 friedlich feiernde Menschen niedergemetzelt worden waren. Dabei erinnerte man sich an die Anschläge aufs Pariser Bataclan 2015, auf den „Pulse“-Club in Florida 2016, auf ein Konzert des Teenie-Stars Ariana Grande in Manchester 2017, auf das „London Pub“ in Oslo 2022.
„Während aber auf die Solidarität der Techno-, Club- und Rave-Szene nach den Anschlägen in Paris, Orlando, Manchester, Oslo und so weiter immer Verlass war, stets Mitgefühl bekundet wurde und Soli-Konzerte und Festivals veranstaltet wurden, passiert nach dem Massaker auf dem Supernova-Festival hingegen erst mal: nichts.“
Diese Stille, dieses dröhnende Schweigen steht am Anfang von Jens Balzers Essay „After Woke“ – darauf folgend die Beschäftigung mit jenen schnell einsetzenden antisemitischen Rufen in den Pali-Camps westlicher Universitäten und der neuerlichen Desavouierung Israels als vermeintlich kolonialistisches Herrschaftsprojekt. Dass sich selbst Natives aller Erdteile für Israel einsetzen, wird von Kalifat-Adepten und „From the river to the sea“-Sprechchören nonchalant weggewischt. Es scheint, schreibt Balzer, als sei die Wokeness-Bewegung schweigend an ihr Ende gelangt, als offenbare sich seit dem 7. Oktober 2023, was Gegner längst geahnt hatten:
„Dass es sich bei dieser theoretischen Strömung um nichts anderes handle als um die intellektuelle Marotte einer ökonomisch verwöhnten Jugend, die sich in den Wärmehallen des universitären Betriebs immer weiter von der realen Welt entfernt habe und die dabei – wie man an ihren antisemitischen Ausbrüchen sehen könne – den Prozess einer politischen Radikalisierung durchlaufen habe.“
Essay ist keine Munition für neurechte Kampfgruppen
Man könnte die Wokeness-Kultur damit beenden und zurückkehren zu ausgrenzenden Stereotypisierungen, zu Rassismus und Misogynie, zur gemütlichen, die Mehrheitsgesellschaft würdigenden Geschlechterbinarität. Macht Jens Balzer das? Immerhin heißt dieser Essay „After Woke“. Das klingt so schön nach Trauermarsch und Beerdigung, nach Schlussstrich oder Siegesfeier, nach einem „O’zapft is!“ für den konservativen Gegenschlag. Aber darum geht es Balzer nicht, sein Essay ist keine Munition für neurechte Kampfgruppen:
„Denn es ist ja immer noch richtig, das N-Wort nicht zu benutzen; es ist immer noch richtig, sein Verhalten, seine Sprache auf rassistische Stereotype zu überprüfen – auch wenn die Priester*innen des antirassistischen und postkolonialen Wahrheitsregimes sich gerade als Heuchler*innen, als Protagonist*innen eines selektiven Humanismus entlarvt haben.“
Deshalb leistet dieses Buch nachrevolutionäre Arbeit. Es hegt die inzwischen uferlosen Forderungen der Wokeness-Bewegung auf korrigierende Weise ein: So wie einst die Aufklärung ihre Dialektik gebraucht hat, die 68er-Bewegung ihre Einsicht in den ihr innewohnenden „Rebellion und Wahn“.
Was kann weg, was sollte bleiben?
Balzers „After woke“ fragt: Was kann weg, was sollte bleiben? Es nimmt während dieser Überlegungen auch jene Außenstehenden mit, die in den vergangenen zehn Jahren irritiert auf einige der vermeintlich woken – also wachsamen – Gesellschaftsanalysen geblickt haben. Viele Debatten, Anwürfe, Diskurse wirkten, als habe erst die „Generation Z“ Jürgen Habermas’ antiautoritäre Diskursethik rezipiert, als sei Judith Butlers „Gender Trouble“ von 1990 vorher nie gelesen worden, als hätte sich auch niemand beteiligt am deutlich queeren Indie-Hype der frühen 2000er.
Mit so viel falschem Aplomb hat beispielsweise – in der Analyse Balzers – der einflussreich gewordene Postkolonialismus ein quasi-religiöses Wahrheitsregime installiert, das seine Umwelt mit genau jener Binarität beobachtet, die mindestens auf Geschlechterebene abgeschafft werden sollte,
„als eine intellektuelle und kulturelle Praxis, die die Menschen in zweierlei Hinsicht klassifiziert. Einerseits teilt er sie in weiß und Schwarz; in Unterdrücker und Unterdrückte. Andererseits teilt er sie in jene Menschen ein, die eine Therapie gegen ihre rassistischen Vorurteile ablegen müssen, und in jene, die hierbei als Therapeut*innen fungieren – oder, um […] die Überlegungen Michel Foucaults zu zitieren: Er teilt sie in Büßer*innen, die ein Geständnis ablegen müssen, und in Priester*innen, die dieses Geständnis entgegennehmen und danach die Absolution erteilen – oder eben auch nicht.“
Mit den bisherigen Strategien ist kein Staat zu machen
Der Vorschlag von Jens Balzers intellektuell anregendem, ausgewogen argumentierendem „After Woke“-Essay ist daher, jegliche Arten der religiösen Dogmatik zu beenden, den islamischen Faschismus als Bedrohung endlich anzuerkennen und essentialistisches Denken abzulegen – egal welcher Couleur. So wird zum Ende deutlich, dass dieser Debattenbeitrag die Vision entwirft für eine Rückbesinnung auf ursprüngliche Impulse der woken, postkolonialen, queerfeministischen, identitätspolitischen Linken – denn, so Balzer, eine Utopie sei weiterhin geboten. Aber mit den bisherigen Strategien, das zeigt dieses kleine Buch, ist kein Staat zu machen, nicht einmal: ein palästinensischer.