Jens Beckert: "Imaginierte Zukunft – Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus"
Suhrkamp Verlag Berlin, 569 Seiten
Die Unberechenbarkeit der Märkte
Wie sich die Wirtschaft entwickelt, dazu erscheinen beinah täglich neue Prognosen, Zahlen oder Statistiken. Alles Makulatur, erklärt Jens Beckert in seinem neuen Buch "Imaginierte Zukunft". Denn der Kapitalismus bleibe in seinem Wesen unberechenbar.
Es gehört zu jedem Partytalk, dass das Spekulieren an der Börse eine Wette auf die Zukunft ist, dass man sich dabei kräftig verzocken kann. Nichts ist hier voraussagbar. Das ist die eine Seite. Die andere ist eine hochgerüstete Zahlenwelt, aufwendig hergestellt von Wirtschaftsforschungsinstituten, Ratingagenturen, Analysten, die vom Wachstum einer Volkswirtschaft bis hin zu den Chancen einzelner Aktienwerte Prognosen, Modellrechnungen und Statistiken vorlegen, die ein wirkmächtiges Bild erzeugen: das Bild einer mathematischen Berechenbarkeit der wirtschaftlichen Zukunft.
Die Zukunft bleibt unberechenbar
Es ist dieses Bild, das der Kölner Soziologe Jens Beckert zerstört. Jedoch so, dass man – um eine Metapher aus der Wirtschaftstheorie selbst zu verwenden – von einer "schöpferischen Zerstörung" sprechen kann. Denn Beckert wird nicht müde, die Notwendigkeit und den Sinn von mathematischen Risikoberechnungen, technischen Analysen von Aktienkursen oder volkswirtschaftlichen Prognosen zu betonen. Aber, und das ist seine Grundthese: Im Innersten des Kapitalismus steckt eine unhintergehbare Ungewissheit. Dass Prognosen und Zukunftsmodelle in aller Regel in der Ökonomie nicht so eintreten wie vorausgesagt, dass keines der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute, die Finanzkrise von 2008 vorauszusagen in der Lage war, ist für Beckert keineswegs ein Problem nicht ausgereifter Prognosetechniken, sondern ist der Kern jener Erwartungen an die Zukunft, die die Dynamik des Kapitalismus prägen.
In allen wesentlichen Instanzen der Wirtschaft, vom Geld, über Kredite bis hin zu Investitionen oder den Konsum sieht er unhintergehbare fiktionale Bestandteile am Werk, die sich der Überführung in Mathematik und Wahrscheinlichkeitskalküle grundsätzlich sperren. Um diese fiktionalen Aspekte zu analysieren, nutzt Beckert die Literaturtheorie und geht davon aus, dass in der Regel auch fiktive Geschichten in der Literatur nicht "bloßer" Phantasie entspringen, sondern vielfach mit der Darstellung realer Sachverhalte verdrahtet sind. Autoren tun so, "als ob" die von ihnen beschriebene Realität wahr wäre. Sie werden plausibel, indem sie Erfundenes mit ReWaalem verknüpft wird.
Unterstellter Wert von Papier
In der Wirtschaft, so zeigt Beckert, verhalten wir uns so, als habe Papier einen Wert und um Kredite einzugehen oder zu gewähren gehört die fiktionale Unterstellung der Geldwertstabilität einerseits und andererseits schlicht die Unterstellung, dass Kredite auch zurückgezahlt werden, so wie wir auch davon ausgehen, dass Geld, das auf ein Sparkonto eingezahlt wird, auch wieder abgehoben werden kann. In der Hochzeit der Finanzkrise, hat beispielsweise die Bundesregierung ohne eine wirkliche Grundlage die Sparer in diesem Glauben bestärkt, um einen Kassensturm zu verhindern.
Selbst wir Konsumenten erfinden in gewisser Weise eine Zukunft, in der wir mit dem neuen, schicken Tesla zugleich den Klimawandel bekämpfen und einen sozialen Distinktionsgewinn erzielen, solch ein Auto fährt schließlich nicht jeder.
Dies alles sind eben nicht bloße Fiktionen, sondern all dies greift in die Wirklichkeit ein, verändert selbst die Erwartungen an die Zukunft, schlechte Prognosen haben eben erhebliche Auswirkungen auf den wirklichen Aktienwert eines Unternehmens, ja oft auch auf die politische Steuerung.
Das Beeindruckende an diesem Buch ist, dass Beckert für jenen Bereich unserer Lebenswelt, von dem wir oft davon ausgehen, dass er am stärksten von instrumenteller Vernunft und rationalem Kalkül geprägt ist, von der Ökonomie also, ein Motiv wiederbelebt, das das ganze menschliche Handeln prägt und strukturiert: radikale Kontingenz, das Leben mit dem Zufälligen und Unvorhersagbaren. Denn wer weiß schon, was die Zukunft bringt. Wirtschaftsforschungsinstitute und Ratingagenturen jedenfalls nicht.