Das vollständige Gespräch mit Jens Jessen hören Sie hier:
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"Vollständig blauäugig, geradezu kindlich-naiv"
09:37 Minuten
Nach dem Ja des Europaparlaments zur EU-Urheberrechtsreform entwickelt sich ein Shitstorm. Influencer sehen eine ganze Generation massiv beschädigt und drohen mit Folgen für die Europawahl. "Zeit"-Redakteur Jens Jessen findet das "völlig absurd".
Der Protest gegen die EU-Urheberrechtsreform ist in den Sozialen Medien in vollem Gange. Selbst der Whistleblower Edward Snowden fühlte sich zu einer auf Deutsch verfassten Wahlempfehlung animiert: Er ruft dazu auf, nicht CDU/CSU zu wählen. Andere beklagen die angebliche Zerstörung des Internets oder die völlige Missachtung ihrer Grundrechte.
Jens Jessen, Redakteur im Feuilleton der "Zeit", hält die Vorwürfe für "völlig absurd". Die Kritiker "tun genau dasselbe oder Schlimmeres als das, was sie ihren Gegnern vorwerfen", sagte er im Deutschlandfunk Kultur.
"Vor allem ist die Referenzgröße 'Freiheit des Internets' wirklich kindisch, viel zu groß."
Die Reform-Gegner verhielten sich "vollständig blauäugig, geradezu kindlich-naiv gegenüber den Verwertungsinteressen der großen Internetkonzerne", so Jessen. Güter auch im Internet urheberrechtlich zu schützen, sei indes "absolut legitim".
Der Journalist räumt zwar ein, dass es eine "gewisse Unsicherheit" bei der technischen Durchführung geben könnte; das Netz sei schon jetzt intransparent und könne missbraucht werden:
"Aber im Kern hat das mit Freiheit nichts zu tun - es sei denn, man meint einfach die Freiheit des Stärkeren, die man verteidigen will, sich nämlich alles zusammenzuklauen, was man sich zusammenklauen kann. Demonstrationen haben immer natürlich eine gewisse Signifikanz, ein moralisches Einschüchterungspotential der Art, dass man denkt: Wer auf die Straße geht, wird schon irgendwie Recht haben. Aber in diesem Fall sehe ich nur Leute, die einfach ihr Unterhaltungsbedürfnis und ihren Anspruch auf Gratisunterhaltung verteidigen, und mehr nicht."
Ob die Proteste Auswirkungen auf die Europawahl haben, sei schwer zu sagen. Doch so viel sieht Jessen als gesichert an:
"Das bloße, auch an Politiker gerichtete Neinsagen bewirkt ja leider gar nichts."
(bth)