Jens Kastner: Die Linke und die Kunst. Ein Überblick
Unrast Verlag, Münster 2019
300 Seiten, 18 Euro
Die Kunst lenkt nicht vom Klassenkampf ab
05:46 Minuten
Unter linken Denkern war die Kunst oft als bürgerlich verschrien. Eigentlich hat nur Antonio Gramsci in seinen Bemerkungen zur Populärkultur eine kohärente Theorie entwickelt. Der Soziologe Jens Kastner fasst das heterogene Feld linken Kunst-Denkens in einer Studie zusammen.
"Sind Sie ein Mann der Kunst, Premierminister?" In der Netflix-Serie "The Crown" schüttelt Harold Wilson den Kopf, als ihn Königin Elizabeth bei der Eröffnung eines Kunstmuseums zur Rede stellt. "Nein, ich bin Wirtschaftswissenschaftler" entgegnet der Labour-Politiker der Monarchin, "da weiß man, was man hat".
Linke Theorie und Praxis, dafür ließe sich die fiktive Szene heranziehen, stehen unter dem Primat der Ökonomie. Dass Kunst und Kultur darin aber eine wichtige Rolle spielen, zeigt der Soziologe Jens Kastner in seinem neuen Buch.
Der Stellenwert der Kunst in der Philosophie
"Die Linke und die Kunst" ist keine Streitschrift zur neu aufgeflammten Debatte um das Verhältnis von Kunst und Politik. Vielmehr verfolgt der Dozent an der Wiener Akademie der Bildenden Künste, Jahrgang 1970, den Stellenwert der Kunst in der Philosophie von Karl Marx über Antonio Negri bis Juliane Rebentisch.
Souverän arbeitet Kastner dabei die prägenden Phasen heraus. Orthodoxe Denker wie Lenin oder Georg Lukács hielten Kunst noch für einen bloßen Reflex der Produktionsverhältnisse. Dagegen setzen Denker der Kritischen Theorie wie Theodor W. Adorno oder Ludwig Marcuse die Idee des autonomen Kunstwerks.
Eine gleichsam kopernikanische Wende vollzieht Walter Benjamin. Seit seiner Schrift "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" gelten der technische Fortschritt, der soziale Status und die Macht der Institutionen als Parameter, die die Kunst mindestens genauso prägen wie die Intentionen ihrer Produzenten.
In einer dritten Phase kritisieren schließlich die zeitgenössischen Theorien des Feminismus und der Dekolonisierung Kunst als privilegierte Praxis der westlichen Moderne.
Kastner macht ein merkwürdiges Paradox aus: Die meisten der von ihm angeführten Denker gestünden der Kunst zwar großes emanzipatorisches Potenzial zu. Selbst der französische Soziologe Pierre Bourdieu nennt sie ein "Instrument der Freiheit". Sieht man aber von Antonio Gramscis Bemerkungen zur Populärkultur in seinen legendären "Gefängnisheften" oder Bourdieus unvollendet gebliebener Studie zu Édouard Manet ab, habe keiner von ihnen diesen Gedanken jedoch als kohärente Theorie ausgearbeitet.
Kastners Studie ist umfassend und verständlich
Kastners materialreiches Panorama füllt eine echte Lücke. Erstmals erschließt sie das heterogene Feld linken Kunst-Denkens so umfassend wie verständlich. Seine Studie widerlegt das landläufige Vorurteil, die Linke respektiere das Eigenständige der Kunst nicht. Sie widerlegt aber auch das linke Vorurteil, Kunst lenke bloß vom Klassenkampf ab.
Anders als der "Art-Aktivismus" heute sehen die meisten der von Kastner angeführten Denker die kritischen Möglichkeiten der Kunst aber eher darin, die Wahrnehmung zu verändern als ad hoc andere gesellschaftliche Verhältnisse durchzusetzen oder "konventionelle Illusionen" zu zerreißen, wie es Friedrich Engels gefordert hatte.
Den "unerschütterlichen Glauben an die verändernde Kraft der Kunst" bezog der marxistische Kunsthistoriker Anthony Blunt bekanntlich von den Werken des Barockmalers Nicolas Poussin, nicht von aktivistischen Aktionen wie Gustave Courbets Sturz der Siegessäule auf der Place Vendôme während der Pariser Commune. Das Bekenntnis legt der britische Schriftsteller John Banville in seinem Roman "Der Unberührbare" Blunt in den Mund. In den 60er-Jahren war der langjährige Kurator von Königin Elisabeths Gemäldesammlungen als KGB-Spion enttarnt worden.