Jens Mühling: "Schwere See. Eine Reise um das Schwarze Meer"
Rowohlt Verlag
320 Seiten, 22 Euro, E-Book 19,99 Euro
Verschlungene Geschichten vom Schwarzen Meer
06:55 Minuten
Einmal im Uhrzeigersinn rund um das Schwarze Meer. 4500 Küstenkilometer in einem Dreivierteljahr. Das Ergebnis dieser Reise ist "Schwere See" von Jens Mühling. In seinen Reisereportagen richtet der Autor ein besonderes Augenmerk auf Minderheiten.
Wie viele Länder um das Schwarze Meer liegen, ist gar nicht so einfach zu sagen. Sechs Länder sind es offiziell: Russland, Georgien, die Türkei, Bulgarien, Rumänien und die Ukraine. Doch was heißt schon "offiziell"? Sechseinhalb Länder, so schreibt es Jens Mühling in "Schwere See", sind es, wenn man Abchasien mitzählt, eine abtrünnige Provinz Georgiens. Dann könnte man noch Moldawien mitzählen, Transnistrien, außerdem noch die Überreste des byzantinischen Reichs. Und vor sechs Jahren hat sich wieder eine neue Frage aufgetan: Zählt man die Krim jetzt zu Russland, zur Ukraine oder doch lieber für sich?
Genau diesen Schwierigkeiten spürt Jens Mühling in seiner Reisereportage "Schwere See" auf. Ein Dreivierteljahr war er auf der Reise, einmal im Uhrzeigersinn rund um das Schwarze Meer, auf der Suche nach Gesprächen und Begegnungen. Geschichtliche Verwirrungen sind bei ihm keine trockene Materie – Mühling sucht sie in Form von menschlichen Schicksalen. Was er erzählt, sind persönliche, oft verschlungene Geschichten von wilden Migrationswegen und Menschen, die eine Gemeinsamkeit haben: dass sie sich an der Schwarzmeerküste zu Hause fühlen.
Die verworrenen Geschichten des Schwarzen Meeres
Gerade die Minderheiten haben es Mühling angetan. Er trifft auf georgische Türken in Russland, die weder in Georgien noch in der Türkei erwünscht sind, auf Ukrainer, die auf der Krim wohnen und zwei Pässe in der Tasche haben und je nach Situation den einen oder den anderen vorzeigen. Auf Pontier, Nachfahren der alten Griechen. Ihm begegnen syrische Flüchtlinge mit tscherkessischen Vorfahren im Kaukakus, auf unsichtbar gemachte Muslime in Bulgarien, zurückgekehrte Juden in der Ukraine.
Der Autor läuft umher wie ein staunender Junge, er sieht, hört und schmeckt. Er probiert etwa an jedem Ort das Meerwasser, um zu prüfen, ob sich der Salzgehalt verändert. Seine Reiseroute passt er dabei immer wieder örtlichen Besonderheiten an: Abchasien muss er etwa erst umrunden, weil die Georgier ihn von dort nicht ins Land lassen würden, wäre er von Russland aus eingereist. Zentrales Thema ist also: Zeit. Und die hat Jens Mühling. Er nimmt sich Zeit für Abzweigungen und kommt dabei in die absurdesten Situationen. Er findet sich plötzlich mit Vodka im Rucksack in einer Schmugglerbande wieder, oder er trinkt in Georgien mit einer Diebesbande bis zum Erinnerungsverlust. Er übernachtet in Anglerhütten, trampt von einem Ort zum anderen und lässt sich Geschichten erzählen.
Geschichten, Dialoge, Beobachtungen
Den Menschen begegnet Mühling mit Neugier und Respekt. Er stellt scheinbar unschuldige Fragen, die aber mitten ins Herz gehen: "Bist Du glücklich mit Deiner arrangierten Ehe?", "Hast Du es nie bereut, Deine Jugendliebe gehen zu lassen?" oder – wahrscheinlich die explosivste Frage, die man im Schwarzmeerraum stellen kann – "Wie ist das Verhältnis zu Euren Nachbarn?" Dadurch, dass er sich immer auch selbst entblößt, mit seiner eigenen Geschichte und seinen – wenigen – Vorurteilen transparent umgeht, verhindert Mühling Überheblichkeit oder Voyeurismus. Das "Wer spricht?" findet jederzeit eine eindeutige Antwort: Jens Mühling als Reisender mit einem deutschen EU-Pass.
Szenen mit Dialogen, Landschaftsbeschreibungen, Betrachtungen von örtlicher Kunst – all das wechselt sich ab in "Schwere See". Auch griechische Mythologie fließt immer wieder ein, zumal die Griechen in der Antike den – für sie damals barbarischen – Schwarzmeerraum kolonisiert haben.
Geographische und erzählerische Schlenker
Besonders schön zu lesen sind auch Mühlings intensive Betrachtungen. Ein langes Stück Mauer mit Stacheldraht in Bulgarien an der Grenze zur Türkei – ein Überrest des ehemaligen Eisernen Vorhangs – lösen etwa Gedankenströme darüber aus, dass die Fluchtrichtung bis vor 30 Jahren eine andere war als die heute. Und – was sich Mühling vor dem Hintergrund der Berliner Geschichte nicht erklären kann – offenbar hat sich in 30 Jahren nie jemand die Mühe gemacht, das Terrorbauwerk abzureißen.
So ergeben jeder geografische und jeder erzählerische Schlenker letztlich einen Sinn. Zwischendurch finden sich etwa Exkurse zu Meeresbewohnern wie der eingeschleusten Schnecke aus dem Bosporus, die das gesamte Ökosystem des Schwarzen Meers umgestürzt hat, von der Mühling erzählt, um kurz darauf Analogien zu menschlichen Vertreibungsgeschichten zu ziehen.
Mühling hat ein Faible für poetische Pointen, die so treffsicher sind, dass man ihm sogar verzeiht, wenn die eine oder andere ein bisschen zu blumig ausfällt. Letztendlich weben sich alle Einzelgeschichten in ein poetisches Gesamtbild. Das Ergebnis ist ein sehr diverses Porträt der Schwarzmeerbewohner und ihrer verworrenen Geschichten.