Jenseits der Grenzen

Von Michael Laages |
Nach der "Montezuma"-Oper zur Eröffnung schärfen die kleineren Produktionen den Blick auf das Fremde beim Festival "Theater der Welt". Zum Beispiel der Südafrikaner William Kentridge mit "Ich bin nicht ich!" nach Motiven von Gogol und Sterne.
Der Titel klingt kryptisch - "Ich bin nicht ich!" Und: "Das Pferd gehört mir nicht!" So ist der kleine Abend des mittlerweile weltberühmten und mit höchsten internationalen Ehrungen und Einladungen ausgestatteten südafrikanischen Künstlers William Kentridge übertitelt; er zitiert damit ein (angeblich) russisches Sprichwort, das des Pferdediebstahls beschuldigte Angeklagte zur Verteidigung benutzten. Kentridge erzählt damit ein locker ineinander verwobenes Bündel von Geschichten - zum einen die der sehr besonderen Nase, die dem Beamten Kowaljow eines Morgens abhanden kommt in Nikolai Gogols Novelle wie in der von Dmitri Schostakowitsch nach Gogol komponierten Oper; die hat Kentridge ja neulich in New York inszeniert, nach der Beschäftigung mit Gogols Thema, die er jetzt beim "Theater der Welt" in Mülheim an der Ruhr zeigt.

Darüber hinaus berichtet er aber auch von vielen weiteren Beispielen für den Ich- oder Teil-Ich-Verlust einer literarischen Figur, von Lawrence Sterne etwa und dem "Tristram Shandy"-Roman, sowie generell und grundsätzlich von der Distanz, die sich oft einstellt zwischen Autor, Werk und Idee; speziell dann, wenn die Erkennbarkeit des Ich durchaus gefährlich werden kann – wie in Stalins Schauprozess im Zentralkomitee der KPdSU gegen Bucharin, den treuen Weggefährten des toten Lenin. Aus diesen Protokollen zitiert er ausführlich; denn es geht - erzählt Kentridge - zuweilen um Leben und Tod, wenn jemand in Gefahr, zu sehr eins zu sein mit sich selber.

Kentridge selber, in Deutschland bekannt geworden zuerst durch eine südafrikanisch-schwarze "Woyzeck"-Fassung, die er mit der "Handspring Puppet Company" aus Johannesburg erstmals beim "Theater der Welt" 1993 in München vorstellte, schafft auf der Bühne sehr trickreich Distanz zu sich selbst - während er selbst eigentlich nur einen kleinen Vortrag zu halten scheint über literarisch-opernhafte Nasen an sich und die Ich-Distanz von Schriftstellern, Komponisten und Politikern, erscheint er selbst als zweites und drittes Alter Ego seiner selbst auf einer Leinwand hinter der Bühne; Woody Allens "Zelig" und "The Purple Rose of Cairo" lassen grüßen.

Die Kentridge-Ichs treten nach und nach in Beziehung miteinander, scheinen einander dabei durchaus auch irgendwie zu stören - bis sich die andere, die Kunst-Welt, ganz und gar unabhängig zu machen beginnt vom Erfinder: in Trickfilm-Sequenzen und gezeichneten Animationen, mit Marschmusik und einer ganzen Prozession von Kunst-Figuren.

Das wirkt sehr heiter - ist aber (Stalin und Bucharin im Hinterkopf) zugleich auch bitterer Ernst. Vor allem aber wird deutlich, wie weit Kentridge die engeren Grenzen von Theater überschreitet; nicht umsonst widmete ihm zuletzt das MOMA in New York eine Einzelausstellung: als Künstler zwischen den Künsten.

Generell ist das eine Art Motto der verbleibenden zwei Wochen "Theater der Welt". Die flämische Kuratorin Frie Leysen hätte das Festival womöglich ohnehin lieber "Künstler der Welt" oder "Künste der Welt" genannt; aber Ausrichter ist nun mal das Internationale-Theater-Institut ITI. Darum blieb es bei "Theater der Welt" - aber die Grenzgängereien werden überwiegen. Wie beim Ägypter Wael Shawky - der drehte mit herrlich geschnitzten altitalienischen Puppen-Marionetten an wackeligen Drähten eine Art Geschichte der christlichen Kreuzzüge. Ein Menschheitsdrama mit den Spiel-Methoden der Augsburger Puppenkiste - die Fallhöhe dieser kleinen Arbeit ist beträchtlich. Sie schärft den Blick auf die Begegnungen des Spiels im Theater mit dem Spiel unzähliger anderer, mehr oder minder theatralischer Traditionen.

Die Stärke dieser Begegnung wird - wenn alles gut geht und das Publikum mutig mitmacht - zur generellen Stärke vom "Theater der Welt" werden, das in jedem Fall eine der mutigsten, fremdartigsten Begegnungen mit den Künsten des Theaters verspricht im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres RUHR 2010.
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