Jeong Yu-jeong: "Sieben Jahre Nacht"
Roman. Aus dem Koreanischen von Kyong-Hae Flügel
Unionsverlag, Zürich 2015
528 Seiten, 19.95 Euro
Die Wahrheit über das Stauseemonster
Ein Mann öffnet die Schleusen eines Stausees. Viele Menschen ertrinken. Warum dieser Massenmord geschah, erzählt die koreanische Bestsellerautorin Jeong Yu-jeong geschickt in ihrem Krimi "Sieben Jahre Nacht". Ein beunruhigendes Leseerlebnis.
Über die Tatsachen des Verbrechens wird der Leser dieses Kriminalromans nicht im Dunkeln gelassen, die Ermittlungen sind schon zu Beginn der Geschichte abgeschlossen: Am 12. September 2004 öffnet Choi Hyunsu, der Sicherheitsmanager eines Stausees, die Schleusentore und ertränkt ein ganzes Dorf und die Hälfte seiner Einwohner in den Fluten, zuvor soll er ein Mädchen erwürgt und seine Frau umgebracht haben. Die Medien geben ihm den Namen "Stauseemonster". Sieben Jahre später leidet sein inzwischen 18-jähriger Sohn, Choi Sowon noch immer an dem Stigma, solch ein Monster als Vater zu haben. Es gibt es keinen Zweifel an seiner Schuld.
Akribische Suche nach den Motiven
Wozu dann noch weiterlesen? Dieser Roman soll von der Welt zwischen den Tatsachen und der Wahrheit handeln, schreibt die koreanische Bestseller-Autorin Jeong Yu-jeong im Nachwort. Und so schickt sie den Leser auf die mühsame Suche nach der Wahrheit hinter diesem Verbrechen. Sowons Ziehonkel, ein mittelmäßig erfolgreicher Schriftsteller, hat die sieben Jahre seit dem Unglück damit zugebracht, ihr auf die Schliche zu kommen. Seine Aufzeichnungen lesen wir, und Dank seiner akribischen Recherchen bekommen wir die Ereignisse aus der Perspektive aller Beteiligten geschildert.
Da ist die Hauptperson, der phlegmatische Choi Hyunsu, ein Versager, ein Alkoholiker, der seine Baseball-Karriere schon früh an den Nagel hängen musste und seitdem den Weg des geringsten Widerstands geht. Da ist seine Frau Kang Unju, die aus einfachen Verhältnissen kommt und etwas aus sich machen will. Ihr Ehrgeiz und ihre Sehnsucht nach finanziellem Wohlstand haben sie hart und giftig gemacht. Da ist der Zahnarzt Yi Youngjae, der Besitzer des Landschaftsparks am Stausee, ein perverser Gewalttäter und Vater des ermordeten Mädchens. Und da ist Sowons Ziehonkel Ahn Sunghwan, ein weitgehend passiver Beobachter, der auf der Suche nach einem guten Stoff für seinen nächsten Roman ist. Sie alle, das wird schnell klar, sind Teil dieser Katastrophe, sie alle steuern darauf zu.
Psychologisch geschickt erzählt
Wer also ist am Ende der Schuldige? Krimis funktionieren deshalb oft so gut, weil der typische Leser – meist aus dem bürgerlichen Mittelstands – sich ein bisschen gruseln darf, wenn er über die Verbrechen anderer Mitglieder des bürgerlichen Mittelstands liest. Immer mit der Gewissheit: So verkommen wie die, bin ich nicht. Psychologisch äußerst geschickt, rüttelt Jeong Yu-jeong an dieser Gewissheit. Ihre Protagonisten haben Gefühle und Eigenschaften, die wir nur allzu gut auch von uns kennen. Unzähmbare Wut auf die Welt, nervige Zwanghaftigkeit, unbefriedigte Rachegelüste oder passive Bequemlichkeit. Natürlich wissen wir, dass der Täter eines Amoklaufs oder eines Massenmords der nette Nachbar von nebenan sein kann. Deshalb fragen wir fast schon mechanisch bei solchen medial ausgeschlachteten Verbrechen nach dem Motiv. Um uns dann doch schnell mit einfachen Antworten zufriedenzugeben: Psychopath, unglückliche Kindheit, Krankheit, Perversion, falsche Computerspiele.
Dass wir es uns zu einfach machen, zeigt uns Jeong Yu-jeong mit ihrer Suche nach der Wahrheit. Es ist nicht entscheidend, ob sich die Geschichte in Südkorea oder in Europa ereignet, es sind nicht immer die gesellschaftlichen Verhältnisse oder die äußeren Umstände, die einen ins Verbrechen treiben. Es sind Entscheidungen, die wir im Bruchteil einer Sekunde treffen, die manchmal banal und manchmal fatal sein können. Und manchmal beides zusammen. Höchst beunruhigend. Höchst spannend.