Jeremias Thiel: "Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance: Wie sich Armut in Deutschland anfühlt und was sich ändern muss"
Piper, München 2020
220 Seiten, 16 Euro
Kinderarmut ein Gesicht geben
06:14 Minuten
Sechs Millionen Kinder in Deutschland leben in Armut. Und doch bleibt das Thema zumeist seltsam unsichtbar in der öffentlichen Diskussion. Jeremias Thiel will das ändern.
2001 kommt Jeremias Thiel mit seinem Zwillingsbruder auf die Welt. Seine Mutter, die da bereits schon ihr erstes Kind weggegeben hat, ist von Anfang an überfordert mit den beiden. Sie wie auch der Vater der Kinder ist chronisch krank: Sie leidet unter ADHS und Spielsucht, er ist manisch-depressiv. Beide gehen daher keiner Arbeit nach und sind auf Sozialleistungen angewiesen. Die Familie lebt in Kaiserslautern in einer Region, die von Armut geprägt ist; wo "die Harzer" leben, wie Jeremias Thiel schreibt.
Die Jungen sind von Anfang an sich selbst überlassen. Ihren Eltern gelingt es, weder einen geregelten Tagesablauf zu organisieren noch das Zubereiten von Essen oder die Begleitung des Unterrichts. Jeremias, der sich – anders als sein Bruder – gut zurechtfindet und dem die Schule leicht fällt, muss schon bald alles übernehmen: Einkaufen, Waschen, Essenzubereitung, Organisation, Streitschlichtung. Sobald er in der Schule schreiben gelernt hat, muss er sogar die Anträge auf für Sozialhilfen ausfüllen. Das Kind schmeißt den Laden – und hält es irgendwann nicht mehr aus.
Der "Verrat" an den Eltern
Als Jeremias elf Jahre alt ist, geht er zum Jugendamt und sagt, dass er nicht mehr nach Hause zurück will. Es fühle sich bis heute an wie ein Verrat, schreibt er. Aber der Schritt bedeutet seine Rettung. Jeremias kommt in einem SOS-Familienhaus unter, lernt dort zum ersten Mal, was es heißt, seine Ruhe und einen geregelten Tagesablauf zu haben. Er lernt, dass Erwachsene Kinder unterstützen, materiell, aber vor allem auch emotional. Und er kann sich erstmals voll auf die Schule konzentrieren.
Plötzlich ist das, was vorher auch vonseiten der Schule nicht in Betracht gezogen wurde, möglich: Abitur zu machen etwa. Als Kind armer Eltern bekam Jeremias trotz entsprechender Noten keine Gymnasial-Empfehlung – ein Zeichen dafür, wie schwer es ist, dem Teufelskreis Armut zu entkommen. Ohne seinen selbstgewählten Ausstieg würde der 19-Jährige wohl heute nicht in den USA studieren.
Armut überfordert und schadet
Dem Teufelskreis zu entkommen: das ist das eigentliche Thema dieses Buches. Jeremias Thiel schreibt an gegen Chancenlosigkeit und fordert mehr soziale Gerechtigkeit. Dazu führt er Zahlen an, nennt Statistiken und neueste Untersuchungen. Denn was einem Einzelnen passiert, das strahle immer in die Gesellschaft, so sein Tenor. Denn Armut überfordert, macht Stress und Angst, lässt misstrauisch werden und schadet der emotionalen Entwicklung. Enden kann all das nur, wenn nicht länger an einer ganzheitlichen Förderung und Unterstützung von Armut bedrohter Familien und Kindern gespart werde. Recht hat er.
Jeremias Thiel hat ein mutiges Buch geschrieben. Vor allem, weil er keine Angst davor hat, Privates zu erzählen, und weil er niemanden schont. Auch nicht sich selbst. So hat er die Kontaktanfrage seines Halbbruders unbeantwortet gelassen und den Anfragen der Eltern auf Rückkehr in die Familie wiederholt eine Absage erteilt.
Ein mutiges Buch – mit Schwächen
Eigentlich hat dieses Buch alles, was einen Pageturner ausmacht: eine gute Geschichte, einen Helden und ein Happy End. Dass es das nicht ist, liegt an einem fast schon emotionslosen Schreibstil und daran, dass dieses Buch zwischen Tatsachenbericht und politischem Forderungskatalog mäandert und unentschieden bleibt. Was zeigt: Nicht immer ist ein guter Gesprächsgast mit einer aufrüttelnden Geschichte ein begnadeter Autor. Und die zur Seite gestellte Co-Autorin hat es leider auch nicht besser gemacht.
Trotzdem bleibt zu hoffen, dass Jeremias Thiel allein durch die Veröffentlichung mehr zu hören ist. Persönlich und live. Denn das Thema ist wichtig und richtig. Mehr noch: Es geht uns alle an.