Jérémie Moreau: "Die Saga von Grimr"
Aus dem Französischen von Claudia Sandberg
Avant Verlag, Berlin 2018
232 Seiten, 30 Euro
Coming-of-Age in mythischen Landschaften
Zwischen Bergtrollen, Feuermonstern und dänischen Kolonialherren: Jérémie Moreau erzählt in seinem preisgekrönten Comic "Die Saga von Grimr" mit sehr modernen Mitteln die Geschichte eines Heranwachsenden im Island des 18. Jahrhunderts.
Ein hünenhafter Mann schaut einen an, aus starren dunklen Augen, mit einer Kappe aus seltsam leuchtenden roten Haaren und weichen Lippen. Hinter ihm eine weite Landschaft aus Stein und Schnee und Eis: Island. Mit dem Titelbild von "Die Saga von Grimr" wird man vorbereitet auf eine einprägsame Begegnung mit Grimr, dem Hünen mit dem Kindergesicht.
Grimr ist noch ein kleiner Junge, als er seine Eltern bei einem Vulkanausbruch verliert. Er wird von da an Grimr Enginsson genannt, "von keinem der Sohn", also: ein Niemand in der isländischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in der die Zugehörigkeit zu einer Familie entscheidend ist für die Stellung in der Gesellschaft. Ob ein Niemand wie Grimr sich trotzdem einen Platz erkämpfen kann, das wird zur großen Frage für ihn.
Für eine Saga das Leben aufs Spiel setzen
Der französische Autor und Zeichner Jérémie Moreau bringt seinen Grimr mit einem väterlichen Freund zusammen, mit dem Outlaw Vigmar. Der hält es locker mit Fragen des gewöhnlichen Eigentums, ist aber sehr strikt beim größten kulturellen Erbe Islands: den Sagas.
In einer Kneipendiskussion riskiert Vigmar sein Leben im Streit über die schönste Saga. Als der Kontrahent die Debatte mit dem Messer fortsetzt, wird Vigmar vom herangewachsenen, starken Grimr gerettet, seiner "rothaarigen Bulldogge".
Grimr ist infiziert von Vigmars Begeisterung für die Sagas und von der Sehnsucht, selbst zu einer Gestalt zu werden, von der man sich noch nach Jahrhunderten Geschichten erzählt. Sein Weg dahin führt ihn durch die extreme Härte des isländischen Zusammenlebens in dieser Zeit. Die dänischen Kolonialherren nehmen sich jedes Recht heraus, in den verarmten Dörfern des Landes lauern religiöse Hysterie und eine enorme Gewaltbereitschaft.
Die Landschaft spielt eine wichtige Rolle
Eine wichtige Figur in diesem Drama sind die isländischen Landschaften mit ihrer schroffen Erhabenheit. In Jérémie Moreaus Aquarellen sieht man weit hinaus auf Wiesen und Bergketten, gemalt mit erdigen Farben, zwischen denen helleres Grün und Gelb aufleuchtet. Es ist keine tröstliche Natur, immer wieder bebt die Erde, sie bricht auf, Lava schießt hervor.
Grimr ist eng verbunden mit diesem "Monster mit Feuer im Bauch", auf dem die Isländer wohnen, er spürt die Beben und die Vulkanausbrüche schon weit im Voraus. Diese Verbindung treibt ihn schließlich zu einer Tat, von der man sich wirklich noch lange erzählen kann.
Mischung aus Bergtroll und Hulk
Jérémie Moreaus "Saga von Grimr" wurde beim wichtigen Comic-Festival im französischen Angoulême 2018 als "Bester Comic" ausgezeichnet. Eine der Qualitäten dieses Buches: Es lässt sich auf sehr vielfältige Weise lesen. Grimr hat etwas von einem isländischen Bergtroll oder vom vor Wut rasenden Superhelden Hulk.
Er ist ein Heranwachsender, der wie viele seinen Weg ins Leben sucht, und er ist in seinem aufschießenden Zorn selbst eine Verkörperung der Vulkaninsel, auf der er zuhause ist. Moreau erzählt Grimrs Geschichte in einer enorm beweglichen Dramaturgie, mit ständig wechselnden Seitenaufteilungen und Bildgrößen, breiten Landschaftspanoramen und schmalen Einschüssen. Eine hochmoderne Bildsprache, mit der Jérémie Moreau die Welt der alten Sagas an die Gegenwart anschließt.