Jérôme Ferrari: Nach seinem Bilde
Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
Secession Verlag für Literatur, Zürich / Berlin 2019
208 Seiten, 20 Euro
Tod einer Kriegsfotografin
06:35 Minuten
Ein Priester zelebriert auf Korsika die Totenmesse einer jungen Kriegsfotografin. Die Trauerfeier in Jérome Ferraris Roman "Nach seinem Bilde" wird zur Reflexion über Fotografie - und zur Abrechnung mit der korsischen Befreiungsbewegung.
Zu einem katholischen Begräbnis gehört, dass Trauernde im Haus der Hinterbliebenen, in der Kirche und am Grab Abschied nehmen. An diesen drei Orten denkt ein allwissender Erzähler über den Lebensweg einer ungebundenen, kinderlosen Frau nach, die am provinziellen Alltag und dem gewaltbereiten Nationalismus auf Korsika verzweifelte und doch keinen Weg sah, woanders eine Existenz zu begründen. Antonia war Fotografin, 38 Jahre alt, als sie 2003 starb.
Den zwölf Kapiteln des Romans stellt Jérôme Ferrari Episteln und Psalmen voran, Zitate aus dem Johannes-Evangelium und zuletzt, vor der Grablegung, das Gebet Libera me. Außerdem ordnet er jedem Kapitel eine Fotografie zu. Abgebildet werden sie nicht, doch Ferraris Sprachmächtigkeit lässt einen die vor einem Waldbrand fliehende Frau in Alta Rocca oder die 1911 von Italienern auf dem Brotmarkt von Tripolis erhängten Araber klar vor dem inneren Auge erscheinen; ebenso Soldaten der JVA, die 1992 im Östlichen Slawonien Schweine niedermetzelten.
Den zwölf Kapiteln des Romans stellt Jérôme Ferrari Episteln und Psalmen voran, Zitate aus dem Johannes-Evangelium und zuletzt, vor der Grablegung, das Gebet Libera me. Außerdem ordnet er jedem Kapitel eine Fotografie zu. Abgebildet werden sie nicht, doch Ferraris Sprachmächtigkeit lässt einen die vor einem Waldbrand fliehende Frau in Alta Rocca oder die 1911 von Italienern auf dem Brotmarkt von Tripolis erhängten Araber klar vor dem inneren Auge erscheinen; ebenso Soldaten der JVA, die 1992 im Östlichen Slawonien Schweine niedermetzelten.
Antonias unerfülltes, ruheloses Leben
Die Reflexion über das Wesen der Fotografie und ihre Indienstnahme in Kriegszeiten spielt eine tragende Rolle. Erinnerungen an die beruflichen Wege und inneren Nöte der vergessenen Fotografen Gaston Chéreau und Rista Marjanovičs fügen sich bruchlos ein in die Rückschau auf Antonias unerfülltes, ruheloses Leben. Unter den französischen Gegenwartsautoren gibt es niemanden, der subtiler als Ferrari der Nostalgie des Krieges nachspürt, jenem "furchtbaren Fieber", das die Seele langsam auszehrt.
Die Narration beginnt "am Fuße des Altars". Der Priester, der Antonias Leichnam segnet, ist ihr Patenonkel. Der untröstliche Verwandte zögert das Ende der Messe durch Gebete und Gesänge hinaus. Man begreift, dass die der Trauergemeinde abverlangte Geduld das Mindeste ist, was die Lebenden einem Toten schulden.
1991 an der serbisch-kroatischen Frontlinie
Als Antonia vierzehn war, hatte der Pate ihr einen Fotoapparat geschenkt und unbeabsichtigt die Berufswahl beeinflusst. Wie unerträglich banal der Alltag einer Fotografin auf Korsika sein würde, ahnte das Mädchen nicht: Hochzeiten und Kommunionsfeiern, die Jagdsaison, Badefreuden und Pressekonferenzen der paramilitärischen korsischen Befreiungsfront FLNC, das waren die immer gleichen Anlässe für nichtssagende, in einem Lokalblatt gedruckte Aufnahmen. 1991 reiste Antonia nach Vukovar, an die serbisch-kroatische Frontlinie. Ohne Auftrag. So sehr sie an der Enge auf Korsika litt, war die Realität eines im Krieg zerfallenden Landes doch zu groß.
Ferrari schließt vor nichts die Augen: nicht vor dem "Werk der Zersetzung", das am aufgebahrten Leichnam sichtbar wird, noch vor dem ersten Mordopfer, das Antonia fotografiert, und auch nicht vor der Brutalität korsischer Nationalisten, die Ende der 1980er Jahre begannen, vermeintlich Abtrünnige auf offener Straße zu liquidieren. Die Verklärung des korsischen Befreiungskampfes hat Ferrari auch in "Balco Atlantico" und "Predigt auf den Untergang Roms" bloß gestellt. Nun fällt das Urteil über junge tötungsbereite Männer noch schärfer aus.
Begegnung mit einem Feldwebel der serbischen Armee
Bevor Antonia in den Bergen mit dem Auto verunglückte, war sie im Hafen von Calvi unerwartet einem ehemaligen Feldwebel der serbischen Armee wieder begegnet. Dragan D. hatte sich als Fremdenlegionär verpflichtet und das Töten zum Beruf gemacht. Man möchte annehmen, die niederschmetternde Einsicht, "dass es unendlich viel einfacher ist, in den Krieg zu ziehen als ihn zu verlassen", habe Antonia auf der Fahrt einen Wimpernschlag zu lang die Augen schließen lassen. Vielleicht aber besiegelte nur ein Lichtstrahl der aufgehenden Sonne das Schicksal der müden, desillusionierten Frau.