Jerry Z. Muller: „Professor der Apokalypse. Die vielen Leben des Jacob Taubes“

Ein charismatischer Dämon

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Cover des Buches "Professor der Apokalypse" von Jerry Z. Muller. Auf dem Cover ist das blau gefärbte Bild einer Vorlesung zu sehen. Weiß herausgehoben: Jacob Taubes.
© Suhrkamp Verlag

Jerry Z. Muller

Aus dem Englischen von Ursula Kömen

Professor der Apokalypse. Die vielen Leben des Jacob TaubesSuhrkamp, Berlin 2022

928 Seiten

58,00 Euro

Von Andrea Roedig |
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Er war Rabbiner und Religionswissenschaftler, Kosmopolit und Ideengeber, hat die Geisteswissenschaften an der FU Berlin wesentlich mitgeprägt und kannte keine Grenzen: eine neue, ausführliche Biographie zeigt alle Seiten von Jacob Taubes.
„Bevor es Google gab, gab es Jacob Taubes“ – diese Beschreibung eines Weggefährten schildert treffend ein wesentliches Merkmal jenes Mannes, dem es wie kaum einem anderen gelang, sein Umfeld zu blenden, zu faszinieren und zu polarisieren: Jacob Taubes kannte im Feld der Geisteswissenschaften des 20. Jahrhunderts jeden, und jeder kannte ihn. 1923 in Wien als Sohn einer angesehenen Rabbinerfamilie geboren, führte ihn sein Lebensweg über Zürich, wo er studierte und selbst zum Rabbiner ausgebildet wurde, zu ersten und später festeren akademischen Anstellungen nach Jerusalem und New York, schließlich nach Berlin, wo er die frühen Jahre der Freien Universität mitprägte, inklusive der Studentenunruhen, die er als Teil des Lehrkörpers zu Beginn mit vollem Engagement unterstützte.

Wissenschaftlicher Grenzgänger und Erotomane

Jacob Taubes führte ein Leben, in dem sich geistige Interessen, akademische Funktion und psychische Disposition unentwirrbar verquickten. Er war als Wissenschaftler vor allem an gnostischen, häretischen und messianischen Bewegungen interessiert, also an religiösen Grenzgängern und Extremisten. Er besaß umfassende Kenntnisse aus der jüdischen und christlichen Tradition, die er – gläubig und atheistisch zugleich – auf genialische und eigenwillige Weise miteinander verband. Seine Dissertation „Abendländische Eschatologie“, die er im Alter von 23 Jahren verfasste, sollte allerdings sein einziges Buch zu Lebzeiten bleiben.
Denn Taubes war ein Grenzgänger, er agierte – schon bevor dies zur Mode wurde –„transdisziplinar“, knüpfte Kontakt zu allen, die in den Geistes-, Religions- und Sozialwissenschaften Rang und Namen hatten und zog als charismatischer Lehrer viele Schüler und Schülerinnen an. Zugleich betrog und intrigierte er, war ein Hochstapler und ein berüchtigt ungepflegter Erotomane – nichts von dem, was man bürgerlich „Anstand“ nannte, hielt er ein.

Ein zweiter Paulus

Für das nachgerade „Dämonische“ seines Charakters gab es eine medizinische Erklärung: Nach einem Zusammenbruch 1974 wurde Taubes als hypomanisch, beziehungsweise „bipolar“ diagnostiziert. Die Krankheit brach im späteren Leben voll aus, mehrfach befand sich Taubes in psychiatrischer Behandlung. Er wirkte dennoch bis zu seinem Krebstod 1986 als Wissensvermittler und als Dozent weiter. Jan und Aleida Assmann gaben seine späten Vorlesungen zum Apostel Paulus, mit dem sich Taubes stets identifiziert hatte, als sein Vermächtnis heraus.
Fast 20 Jahre lang hat Jerry Z. Muller Material zusammengetragen und entsprechend ausführlich ist diese Biografie, die nichts auslässt an überlieferten Geschichten über Personen, Intrigen, Affären, und nicht selten stockt bei der Lektüre der Atem über die Dreistigkeit, aber auch Tragik dieses Lebens.
Da Jacob Taubes alle und alles kannte, ist seine Biografie sowohl ein Who is Who der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts als auch ein Lehrstück über die Funktionsweise des akademischen Betriebs, der charismatischen Figuren allzu gerne erliegt, um sie dann doch zu stürzen.
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