Jerusalem-Syndrom

Krankhaft verzückt

Christliche Pilger tragen zum Jahreswechsel '99/ 2000 in einer Lichterprozession ein riesiges Kreuz von der Gethsemane-Kirche zum Ölberg, der Leidensstätte Christi.
Christliche Prozession in Jerusalem: Auch am Rande dieser Veranstaltung riss sich ein "Messias" seine weltliche Kleidung vom Leib © dpa / picture alliance / B280_epa_AFP_Menahem_Kahana
Von Peter Kaiser |
Schon am Flughafen reißen sie sich die Kleider vom Leib, wickeln sich in ein Laken und verkünden, dass sie der Messias sind: Manche Strenggläubige werden von ihren Gefühlen überwältigt, wenn sie Jerusalem besuchen. Das Phänomen tritt so häufig auf, dass es mittlerweile sogar einen eigenen Namen hat.
"Wir sind hier in der zweiten Station des Kreuzweges. Die ersten Station ist dort, wo diese zwei Polizisten hinaufgehen. Das ist eine Schule, von dort kann man den Tempelberg sehen. Also dort gibt es einen Metallknopf mit einer Eins drauf, wo Christus wurde verurteilt."
Jerusalem. Die Heilige Stadt mit dem Heiligesten Ort der Christenheit, der Grabeskirche in der Altstadt mit dem Grab Jesu.
Zur Grabeskirche führt die Via Dolorosa, mit den 14 Stationen des Leidensweges des Messias. Vor knapp 2000 Jahren trug er hier das schwere Kreuz zum Golgathahügel.
Miriam: "Wir sind hier in der Talstraße. Und hier kann man sehen, an diesem Relief, Christus, der fällt unter dem Gewicht von dem Kreuz."
Ingo: "Ich nehme das Kreuz halt hoch, das ist nicht schwer, ist okay. Ich schätze mal so drei Kilo, in der Richtung, es lässt sich tragen."
Miriam: "Wir stellen uns vor, das Kreuz ist ein schwerer Olivenholzbalken, es kann wiegen 40 bis 50 Kilo, das ist nur der Horizontalteil von der Kreuz, aber sehr sehr schwer und hier diesen steilen Abhang hinaufzugehen, besonders nach einer Nacht, das man hat nicht geschlafen."
Mit Spiritualität aufgeladen wie mit elektrischer Spannung
Wie wäre es, wenn Du mit dem Ding durch die Gegend laufen würdest?
Ingo: "Hätte ich kein Problem mit. Also jetzt mal von der Religion abgesehen..."
Die Stadt im allgemeinen und die Via Dolorosa im besonderen sind mit Spiritualität aufgeladen wie mit einer elektrischen Spannung, die bei etwa 30 bis 50 der Abertausenden Besucher jährlich die Sicherungen durchbrennen lässt.
"Die werden sehr aufgeregt und probieren zu springen von Häuser, oder in die Straßen ohne genügend Kleider zu laufen, oder fangen an zu prophezeihen oder werden aggressiv", ...
... erklärt die Stadtführerin Miriam Lowenberg
"Das passiert meistens Menschen, die sehr gläubig sind. Jerusalem-Syndrom. Das passiert Männern und Frauen, sie glauben, dass sie der Messias sind."
"Also wenn man das Kreuz auf die Schulter nimmt, ich finde das ganz okay, vom Gewicht her kann man das tragen. Auch sicherlich über längere Strecken, kein Problem."
...sagt Ingo, der das Holzkreuz, das man in entsprechenden Läden in der Altstadt mit der Aufschrift "Rent a Cruzifix" mieten kann, rechts trägt wie einen Aktenordner, in der linken Hand eine Falafel. Und Sophie, die französische Pilgerin, ist universell beschützt...
"Und hier kann man sehen, an diesem Relief, Christus, der fällt unter dem Gewicht von dem Kreuz, also das ist eine der Stationen..."
Irgendwann muss der Messias dann ins Geisteskrankenhaus...
Das Jerusalem-Syndrom ist eine krankhaft religiöse Verzückung, sagen die Psychiater der Heiligen Stadt. Gregory Katz etwa vom Kfar Shaul Mental Health Center lächelt. Es ist jetzt schon eine Weile her, sagt er, dass er dem letzten Messias begegnet sei. Grundsätzlich unterteile sich das Jerusalem-Syndrom in drei Kategorien...
"...in psychisch vorbelastete Menschen, dann Menschen, die für psychische Krankheiten eine Prädisposition haben, und eigentlich gesunden Menschen, die nach fünf Tagen geheilt sind. Die meisten von ihnen sind männlich, hin und wieder gibt es auch Frauen, aber alle sind sie streng gläubig erzogen worden."
Miriam: "Ich habe es erlebt, wo noch bevor die nach Jerusalem kam, eine junge Frau, die besuchte hier mit ihrer Mutter, ist sehr aggressiv geworden, und wir kamen nach Jerusalem, direkt zu dem Geisteskrankenhaus."
Meist entpuppen sich die vom Messias-Wahn Befallenen bereits nach der Landung auf dem Ben Gurion-Flughafen als Propheten. Unruhig passieren sie die Passkontrolle, am Gepäckförderband beginnen sie salbungsvoll zu sprechen, spätestens im Hotel ist es dann soweit: Sie verkünden ihre Ankunft als Messias. Die meisten reißen sich die weltlichen Kleider vom Leib, nehmen ein Hotellaken und eine Schnur- einige verzichten ganz auf Bedeckung – und verkünden: "Hier bin ich, der Allmächtige". Meist tritt das Syndrom zu Ostern oder Weihnachten auf, wie Gregory Katz erklärt.
Das Phänomen beschränkt sich allerdings nicht nur auf die Stadt Jerusalem. Hin und wieder muss die israelische Polizei in die judäische Wüste ausrücken, um dort die dehydrierten Gottessöhne einzusammeln. Die Stadtführer berichten auch von einer Frau, die in der Grabeskirche das Jesuskind gebären wollte. Und nicht selten kommt es zu skurrilen Begegnungen, etwa wenn der Messias auf einen Kollegen trifft, oder König David der Mutter Maria begegnet, das ist dann eine Art biblische Tagung. Auch Johannes der Täufer steht im Propheten-Ranking ganz oben, dicht gefolgt von Petrus.
"Letztlich ist es eine akute Psychose, und einige Tage später wissen sie noch nicht mal mehr, dass sie der Messias waren."
Zu den hohen christlichen Feiertagen sind die Polizisten besonders aufmerksam. In den Psychiatrieabteilungen werden Plätze freigehalten und Beruhigungsmittel bereitgestellt. Manchmal ist das alles notwendig, oft aber reicht es schon, die Auserwählten schnell aus Jerusalem zu entfernen.
Und manchmal weiß der Jerusalem-Tourist nicht so genau, ob der Besucher oder die Besucherin vor ihm mit einem Freund über die Handyfreisprechfunktion spricht. Oder ob es ein Messias oder die Mutter Maria ist...
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