Jerusalem

Zwischen Alltag und Angst

Schwerbewaffneter Polizist steht neben einer Litfaßsäule, auf der eine Frau auf einem Werbeplakat lächelt
Paradoxes Jerusalem: Gewalt und Angst auf der einen Seite - Alltag auf der anderen. © dpa/picture alliance/EPA/Atef Safadi
Von Christian Wagner |
Stadt der Widersprüche: In Jerusalem kommt es immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen mit Toten, viele Menschen haben Angst und bewaffnen sich. Trotzdem ist die Stadt bei Touristen beliebt und ihre Bewohner gehen ihrem Alltag nach - wenn auch mit Einschränkungen.
Die Vögel in ihren Käfigen zwitschern wie immer. Die Sonne scheint in die Altstadtgassen von Jerusalem. Wie immer. Aber Yeheskel hat an diesem Morgen seine Schusswaffe aus der Schublade geholt und eingesteckt. Zum ersten Mal seit 30 Jahren, sagt er. Jetzt holt der pensionierte Schuldirektor die kleine Pistole aus der Hosentasche und zeigt sie her. Er hat eine abgewetzte pinkfarbene Hülle dafür.
"Früher hatte man Angst zu schießen, da wollte man nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Aber die Regierung sagt jetzt, dass man auch bei Messerattacken auf den Angreifer schießen darf, ohne dass das ein Nachspiel hat - also habe ich die Waffe geholt."
Trauer, Wut und Angst
Jerusalem, jüdisches Viertel. Yeheskel nimmt sich Zeit für ein Gespräch, er ist ein freundlicher Mann mit langem Bart. Während er erzählt: Schon wieder Eilmeldungen auf dem Handy: Messerattacken, so wie schon am Tag davor. Es gibt Tote und Verletzte auch in Jerusalem, aber nicht in der Altstadt.
Zwei Männer mit jüdischem Gebetsschal gehen vorbei, runter Richtung Klagemauer zum Beten. Einer trägt eine israelische Fahne über der Schulter, wie ein Fußballfan auf dem Weg ins Stadion.
Jerusalem ist nicht normal in diesen Tagen, noch weniger als sonst. Nur ein paar Schritte weiter hockt Ahmed an eine Hauswand gelehnt am Boden, er macht Pause. Ahmed ist Araber, Palästinenser, Moslem, Handwerker. Er renoviert gerade ein ganzes Haus. Die Leute gehen vorbei, man grüßt sich freundlich.
"Ich hätte eigentlich auch noch außerhalb der Altstadt viel zu tun. Aber da gehe ich momentan nicht hin. Ich habe viele Aufträge abgesagt, ich habe keine Kraft. Ich kann momentan keinen Arbeiter anheuern und draußen arbeiten gehen. Ich beschränke mich auf die Altstadt. Hier im jüdischen Viertel kennen mich alle. Ich habe ihre Häuser renoviert, das halbe Viertel. 80 Prozent der Leute hier kennen mich. Deswegen arbeite ich lieber hier."
Der stämmige Mann wirkt traurig. Er spricht von dem 13 Jahre alten palästinensischen Jungen, der am Tag zuvor auf Passanten eingestochen hat, in Ost-Jerusalem, zwei der Opfer sind schwer verletzt. Der Junge wurde von einem Auto überrollt und schwer verletzt. Viele der Attentäter waren unter 20, wurden von der Polizei erschossen.
Jetzt hat Ahmed Angst um seinen ältesten Sohn. Der ist 15, da fängt es an, sagt Ahmed. Da kriegen junge Palästinenser Ärger mit der israelischen Polizei, sie werden wütend. Seinen Sohn haben sie schon verprügelt sagt er, obwohl er nichts gemacht habe. Und trotzdem keine Wut beim Vater, vielmehr Angst.
Touristen fühlen sich sicher
Durchs muslimische Viertel der Altstadt zieht sich die Via Dolorosa. Katholische Pilger aus Polen beten auf ihrem Weg von einer Kreuzwegstation zur nächsten. Es könnte das gewohnte Jerusalem sein. Nur: Es sind so wenige Menschen da. Viele Läden sind zu. Und die Händler, die aufgesperrt haben, sitzen stumm vor ihrem Geschäft, schauen auf ihr Smartphone. Kein einziger spricht die Touristen an, wie sonst.
Es ist, als ob die Gewalt wie ein Gift nachwirkt: Die Messerattacken, die toten Opfer und die toten Täter, die Schreie und die Schüsse.
Eine dieser Szenen hat sich vor zehn Tagen auf dem kleinen Platz vor dem österreichischen Hospiz abgespielt. Dort ist Oberschwester Bernadette Schwarz die Chefin. In ihrer weißen Tracht steht sie im Schatten des Pilger-Heims, darüber schon wieder der Polizeihubschrauber. Die Oberschwester sagt, ihr selbst gehe es eigentlich gut:
"Mir geht's nur schlecht, wenn ich die Leute sehe, wie verschreckt und verzagt und voller Furcht sie unterwegs sind. Aber sonst: Ich hab keine Angst, ich fürchte mich nicht."
"Wir fühlen uns ziemlich sicher"
Ein paar Pilgergruppen hätten schon abgesagt, aber längst nicht alle. Gestern etwa: "Alle Zimmer ausgebucht", sagt die Oberschwester. Widersprüchlich ist Jerusalem immer. Auch für Touristen:
"Wir haben eine kundige Führung mit Ortskenntnissen und der meidet die gefährlichen Punkte, also fühlen wir uns ganz sicher."
"Eigentlich gefällt einem auch die Atmosphäre, selbst mit der Anwesenheit der Polizisten oder Soldaten."
"Wir fühlen uns ziemlich sicher. Unser Touristenführer hat uns erklärt, dass noch nie ein Tourist attackiert wurde. Wir verfolgen die Nachrichten, und demnach sind mehr als 5.000 Polizeibeamte hier in der Stadt. Gleichzeitig ist Jerusalem fast ausgestorben. Zu den Sehenswürdigkeiten zu kommen, ist jetzt sehr einfach. Also wir haben kein Problem, hier durch Jerusalem zu laufen."
"Die Touristen kriegen nicht so viel mit. Und die, die Angst haben, sind zum Beispiel arabische Christen. Ich habe gestern mit einem Ehepaar gesprochen, die haben dann schon Angst. Es ist jetzt nicht so, dass Juden hier in der Altstadt Araber angegriffen hätten. Aber trotzdem, sie fühlen sich einfach unsicher. Sie versuchen, ihre Identität nicht preiszugeben. Juden sehe ich auch, die hier vorbeikommen. Die drehen sich um, wenn sie hinter sich Schritte hören, weil einfach die Angst da ist."
"Wohin soll das noch führen?"
Es ist die Angst vor einem Attentat und die Angst vor Rache-Akten, sagt Lioba Radke. Sie sitzt hinter dem Tresen im christlichen Pilgerbüro am Jaffa-Tor. Ob sie selbst Angst hat?
"Nee, also ich hab noch nie geträumt, sagen wir mal so. Man weiß ja, wo man lebt. Wir kennen ja hier die Situation. Sowohl vom politischen, wie vom religiösen. Die Spannungen, die einfach immer wieder an die Oberfläche kommen, die kennt man einfach."
Zur sichtbaren Oberfläche gehören seit ein paar Tagen Metall-Detektoren in der Altstadt von Jerusalem. Einer steht am Jaffa-Tor. Ein junger Mann, offenbar Araber, muss dort fünf-, sechsmal durchgehen, Gürtel, Schuhe ausziehen. Vier Soldaten umringen ihn, die Hand an der Schusswaffe. Die meisten Leute schauen zu, ein paar schauen weg.
Oben im Armenischen Viertel, direkt an der Stadtmauer, hat Harut Sandruni seinen Porzellanladen, seit über 30 Jahren. Wenn die Touristen ausbleiben wie jetzt, verkauft er kaum etwas. Aber so sei das schon immer gewesen:
"Alle stellen jetzt dieselbe Frage: Wohin soll das noch führen? Das ist das eigentlich erschreckende: Was kommt als nächstes?"
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