Jesiden im niedersächsischen Celle

Zuhause zwischen Fachwerkhäusern

42:27 Minuten
Das Foto zeigt die jesidische Familie Kizilyel in ihrem Wohnzimmer: Im Bildvordergrund sitzt Vater Behcet Kizilyel, dahinter rechts im Bild sein Sohn Salhattin sowie sein Enkelkind und zwei weibliche Familienmitglieder. Kizilyel lebt seit 50 Jahren in Celle.
Seit vielen Jahrzehnten leben Jesiden in Celle - auch die Familie Kizilyel hat in der niedersächsischen Kleinstadt Fuß gefasst. © Deutschlandradio/Ekrem Heydo
Von Susanne Arlt und Ekrem Heydo |
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Hübsch, ein bisschen verschlafen, konservativ - niemand würde vermuten, dass ausgerechnet im niedersächsischen Celle die weltweit zweitgrößte Jesiden-Gemeinschaft zu Hause ist. Doch das Fachwerkstädtchen war schon immer ein Hort für Flüchtlinge.
Deutschland ist für viele Geflüchtete ein Sehnsuchtsort. Für die Jesiden ist es im Besonderen das niedersächsische Städtchen Celle. Hier lebt die größte jesidische Gemeinde Deutschlands – und die zweitgrößte der Welt. Warum gerade in Celle, dieser hübschen Fachwerkstadt, die als Residenz- und Beamtenstadt bekannt ist - und noch dazu konservativ?
Celle ist tatsächlich schon früher Zufluchtsort für Flüchtlinge gewesen. Im Bomann-Museum, am Fuße des Celler Welfenschlosses, kann man in der aktuellen Dauerausstellung mehr darüber erfahren: "Nicht von hier – Migration und Integration im Celler Land". Hilke Langhammer hat die Ausstellung mitkuratiert.
Das Bomann-Museum im Zentrum von Celle, direkt gegenüber dem Celler Schloss. Es ist ein großes und bedeutendes Museen in Niedersachsen. Es wurde 1892 als „Vaterländisches Museum“ gegründet und 1923 nach seinem ersten Direktor Wilhelm Bomann benannt. Celle, Niedersachsen, Deutschland, Europa Datum: 06.11.2018 | Verwendung weltweit
Niedersächsische Fachwerkidylle: Das Bomann-Museum in Celle. Zu sehen ist dort eine Ausstellung über Migranten in Celle.© picture alliance/ dpa
"Celle hat drei große Einwanderungsereignisse, das sind zum einen die Hugenotten im 17. Jahrhundert. Dann ist nach dem Zweiten Weltkrieg durch Flucht und Vertreibung die Bevölkerungszahl etwa verdoppelt worden. Und dann eben – zunächst als Gastarbeiter, aber später vor allem im Rahmen der Militärdiktatur in der Türkei – die kurdischen Jesiden, die sich hier in großer Zahl angesiedelt haben."

Hoffnung auf ein freies, religiöses Leben

Einer von ihnen ist Behcet Kizilyel mit seiner Familie. Er kam vor 50 Jahren nach Celle, verließ mit 21 Jahren sein kurdisches Dorf in der Türkei, auf der Suche nach einem Job und der Hoffnung auf ein freies, religiöses Leben in Deutschland.
Fünf Jesidinnen bei einer Trauerfeier im jesidischen Gemeindezentrum in Celle. Sie sitzen auf Stühlen und tragen Kopftücher.
Trauernde Jesidinnen im Gemeindezentrum.© Deutschlandradio/Ekrem Heydo
Als sein erstes Kind in Celle geboren wurde, entschloss er sich – um seinem Sohn eine bessere Zukunft zu ermöglichen – ihn bei einer Deutschen leben zu lassen, erzählt der heute 71-jährige Mann im gebrochenen Deutsch. Denn Integrations- oder Deutschkurse gab es damals nicht. Die ältere Dame war die Nachbarin eines Kollegen, selber Vertriebene, stammte aus Ostpreußen.
"Für uns Anfang so schwer, und ich habe, ehrlich gesagt, mehrmals geheult auch, aber trotzdem, trotzdem für Zukunft besser. Jeden Tag besuchen, jeden Tag geguckt, jeden Tag spazieren gegangen, aber Kind 99 Prozent immer bei deutscher Familie und später 100 Prozent bei deutscher Familie geblieben."

Der Sohn sitzt heute für die SPD im Kreistag

Der Sohn ist mittlerweile Mitte 40, modisch zerzauste Gelfrisur, immer gut gelaunt: Salhattin Kizilyel. Er ist heute bestens integriert. In Celle betreibt er erfolgreich ein Restaurant, für die SPD sitzt er im Kreistag und Ortschaftsrat.
"Ja, ich hatte praktisch einen Langzeit-Integrationskurs. Da hast du noch Schliff bekommen. Du hast da Struktur gehabt, du hast da auch die Liebe zu Königsberger Klopsen gehabt und zum Szegediner Gulasch."
Teilnehmer des Kulturtages der Jesiden tanzen am 20.08.2016 vor der Kulturstätte in Celle (Niedersachsen). Die größte Exil-Gemeinschaft der Jesiden befindet sich in Deutschland. Hier leben zwischen 50.000 und 90.000 Jesiden, überwiegend in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Foto: Peter Steffen/dpa |
Jesidischer Kulturtag in Celle.© picture alliance/dpa/Peter Steffen
Etwas außerhalb von Celles Altstadt liegt das Ezidische Kulturzentrum, das EKZ. Mitten in einem Industriegebiet. Umgeben von einem Abschleppdienst, einer Kfz-Werkstatt, einem Dreherei- und Maschinenbaubetrieb. Kein stattlicher, prunkvoller Bau, sondern ein schnörkelloser langgestreckter Flachbau. Hier finden Familienfeste und Trauerfeiern statt, es gibt Sprach-, Musik-, Religionsunterricht und Folklorekurse.

Trauerfeier als Verbeugung vor ihrer Religion

Bei den Trauerfeiern gedenkt man drei Tage lang der Toten, hüllt ihren Leichnam in ein weißes Tuch und legt in ihre Augenhöhlen weiße Berat-Kugeln, geformt aus der Tonerde von Lalis, dem höchsten Heiligtum der Jesiden. Mehrere Hundert Menschen reisen mit ihren Autos aus Deutschland, Belgien und der Schweiz an.
Als Scheich Huseyin Ulucan den Saal betritt, strömen die Männer, egal ob jung oder alt, auf ihn zu. Sie küssen ihm die Hand, führen sie an die Stirn. Auf Jesidisch heißt das: Du hast meinen Respekt.
"Wir glauben an einen Gott und wir glauben an seinen Vertreter. Bei uns heißt dieser Vertreter Engel Pfau. Scheich Adi, er hat vor 1.000 Jahren gelebt und unsere Religion sehr stak reformiert. Damals sind die Moslems in unsere Länder eingefallen, um uns zu besiegen. Und um unseren Glauben zu schützen, hat er uns befohlen, dass wir nur noch innerhalb unserer Gemeinschaft heiraten dürfen. Nur um uns zu schützen. Auch die Kasten wurden damals eingeführt. Hätte man das nicht gemacht, wäre man islamisiert worden. Das ist auch der Grund, warum wir heute noch existieren."
Mit 21 Jahren ist Scheich Huseyin Ulucan nach Celle gekommen. Sein Dorf in der Türkei wollte er nie verlassen, doch sein Vater wollte es so. Seit 40 Jahren lebt er hier und spricht noch immer gebrochen Deutsch. Seine Heimat sei sein Dorf in Kurdistan, bekennt er offenherzig. Und seine Religion? Wie viel Tradition aus ihrer alten Heimat können er und seine Gemeinde in Celle erhalten?

Das Jesidentum wird irgendwann reformiert

Patriarchale Strukturen prägen das Jesidentum. Wer nicht innerhalb der eigenen Kaste heiratet, wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Emanzipation, Selbständigkeit, eigener Beruf – immer noch ein großes Tabu für die Frauen. Es ist vieles im Fluss, die Strukturen verändern sich gerade. Doch es sei nicht einfach, sagt Scheich Huseyin Ulucan:
"Wir hängen noch sehr an unseren Traditionen, aber wir denken, dass wir das Jesidentum irgendwann reformieren müssen. Darüber denken wir natürlich nach. Aber das jetzt in diesem Moment zu ändern, das würde unsere Kräfte und unsere Möglichkeiten überfordern."
Denn in den letzten Jahren suchen verstärkt wieder Jesiden Schutz in der Stadt Celle. Sie fliehen vor der Terrormiliz IS.

Nur drei Geschwister haben überlebt

Im Süden von Celle. Einstöckige Reihenhäuser prägen dieses Viertel der niedersächsischen Stadt. Hier leben heute jesidische Familien. Die meisten stammen aus dem Schingal-Gebirge im Nordwesten des Iraks, sind Überlebende einer Region, in der Jesiden seit tausenden Jahren siedeln.
Der 30-jährige Hussein lebt erst seit kurzem in Celle, mit seiner Familie in einem Haus direkt neben seinem Onkel. Er ist einer der wenigen Überlebenden aus dem Dorf Kocho im Süden von Schingal. Dort hat die Terrormiliz IS 1.705 Männer, Frauen und Kinder entführt und ermordet.
Hussein hatte sieben Brüder und sechs Schwestern. Nur drei Geschwister haben den Genozid überlebt. Und 23 Verwandte werden noch immer vermisst. Doch manchmal gibt es auch Grund zur Freude. Zum Beispiel als seine Cousine Nadia Murad im Oktober den Friedensnobelpreis bekam. Sie überlebte das Martyrium und konnte nach einigen Monaten Gefangenschaft aus Mossul fliehen. Und auch wenn Hussein die Zukunft seines Volkes in Schingal sieht. Seine eigene sieht er ganz woanders:
"Kein Weg, wir wollen nicht zurück. Leben hier. Ich fühle mich schon wohl hier in Celle. Viele Menschen hier sind sehr hilfsbereit, Jesiden und Deutsche, die hier in der Stadt leben. Die Stadt gefällt mir. In unsere Heimat in Shingal hatten wir irgendwie immer Angst. Wir hatten Angst, Jesiden zu sein. Und hier hat man diese Angst nicht."
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