Mehrfach traumatisierte Menschen
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Am 3. August 2014 begann im Norden des Irak der Genozid an den Jesiden durch den IS. Die Terroristen sind vertrieben, doch die politische und persönliche Lage der Volksgruppe ist alles andere als stabil, sagt der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze.
Liane von Billerbeck: Vor sechs Jahren überfielen Terrortruppen des Islamischen Staates jesidische Dörfer im Sindschar-Gebirge im Nordirak. Tausende Jesiden und Jesidinnen wurden ermordert, vertrieben, Kinder und Frauen vergewaltigt und verschleppt. Jetzt siedeln sich dort wieder Jesiden und Jesidinnen an.
Reinhard Schulze ist Professor für Islamwissenschaft und neuere orientalische Philologie an der Universität Bern. Herr Schulze, einst lebten etwa 600.000 Jesiden und Jesidinnen im Nordirak, nach der Vertreibung nur noch 40.000. Wie viele sind es jetzt?
Schulze: Es dürften nicht viel mehr sein. Die meisten Jesiden leben im Irak weiterhin in den Flüchtlingslagern, auch in den Lagern der Binnenflüchtlinge. In dem Gebiet von Sindschar selbst ist die Zahl der Jesiden weiterhin sehr, sehr klein.
Billerbeck: Sie sprechen von Flüchtlingslagern. Wo sind diese Lager, und unter welchen Bedingungen leben die Jesiden dort?
Schulze: Es sind Flüchtlingslager, die vor allen Dingen in der kurdischen Region Iraks aufgebaut wurden. Es sind formelle Lager, die auch vom UNHCR unterstützt werden, aber auch informelle, teilweise von privaten Organisationen unterstützt. Sie befinden sich an der Grenze zwischen Kurdistan auf der einen Seite und dem restlichen Irak auf der anderen Seite, sodass die Sicherheitslage für die Jesiden in den Lagern selbst nicht unbedingt immer gegeben ist.
Jesiden leben immer noch in Unsicherheit
Billerbeck: Nun ist der IS zwar zurückgedrängt, aber die Terrororganisation ist nicht weg. Für wie groß halten Sie die Gefahr, dass die Terroristen wieder an Macht gewinnen?
Schulze: Sie werden sicherlich niemals wieder diese Macht erreichen, die sie 2014, 2015 hatten. Das schließt aber nicht aus, dass der sogenannte Islamische Staat in bestimmten Nischen, in bestimmten Regionen wieder Unterstützung bekommen und lokale Machtbereiche aufbauen kann, sodass tatsächlich auch für die Jesiden, die noch vor Ort sind beziehungsweise, die in den Flüchtlingslagern sind, die Situation nicht wirklich sicher ist.
Das heißt, sie können immer auch Opfer der ganzen Agitation des Islamischen Staates werden und insofern ist dieses permanente Unsicherheitsgefühl, was bei den Jesiden auch heute noch zu beobachten ist, durchaus gerechtfertigt.
Billerbeck: Schauen wir zurück in die Tage vor sechs Jahren, am 3. August 2014, da wurden Tausende Frauen und Kinder verschleppt, jesidische Männer getötet. Warum wählten die Dschihadisten des IS genau diese Gruppe aus, um ihre Aggressionen auszuleben?
Schulze: In dem Selbstverständnis des Islamischen Staates ging es um die Rekonstruktion der Situation, die angeblich zur Zeit des Propheten Mohammed im siebten Jahrhundert existiert hatte. Und der Prophet Mohammed hat vor allen Dingen gegen sogenannte Polytheisten gekämpft, also jene, die nicht an einen Gott, sondern angeblich an verschiedene Götter glauben, und dieser Kampf wird quasi neu inszeniert an den Jesiden.
Sie sind Opfer dieses Selbstverständnisses geworden, das der Islamische Staat wieder als eine Reinszenierung der Zeit des Propheten Mohammed aufführen wollte, und da sind die Jesiden zu einem programmatischen Opfer geworden.
Kalifat als Propaganda
Billerbeck: Der IS wollte ja ein Kalifat errichten, so hieß es immer. Ist das nur Propaganda, ein Begriff oder tatsächlich ein politisches Konzept?
Schulze: Es war für sie sicherlich ein politisches Herrschaftskonzept, das vor allen Dingen dazu dienen sollte, eine territoriale Herrschaft in so vielen Räumen der arabischen-islamischen Welt wie möglich zu errichten.
Dieses Kalifat ist natürlich eher eine Fiktion gewesen, aber für die Propaganda war es sehr wichtig, weil damit deutlich gemacht werden konnte: Sie wollen eine Form von Herrschaft, sie wollen eine Form von Macht entwickeln, die es in der Zeit des Propheten Mohammed gegeben hat und die nichts mehr mit dem zu tun hat, was heute ein moderner Staat darstellt.
Billerbeck: Die Jesidinnen und Jesiden haben schon viele Versuche erlebt, ihr Volk zu vernichten. Diesen, 2014, am 3. August, haben sie als 73. Genozid bezeichnet. War das für Sie auch ein Völkermord?
Schulze: Ob das ein Völkermord ist, da mögen die Juristen drüber sprechen. Politisch gesehen ist es für mich natürlich ein Völkermord oder auch moralisch gesehen, was da an faktischem Geschehen zu beobachten war.
Die Tausenden von Menschen, die umgebracht worden sind – das deutet drauf hin, dass es tatsächlich so etwas wie eine strategische Ausrichtung des Islamischen Staates gegeben hat, genau diese Volksgemeinschaft, diese Volksgruppe auszumerzen. Das deutet natürlich auch auf das hin, was heute im Völkerrecht als Völkermord behandelt wird.
Verschleppt und vergewaltigt
Billerbeck: Wir haben besonders die Schicksale vieler Frauen noch in Erinnerung. Einige von ihnen sind auch nach Baden-Württemberg geholt worden, traumatisiert. Wir haben auch gehört, dass Jesidinnen, die verschleppt, vergewaltigt wurden, ihre Kinder zurücklassen mussten, die durch diese Vergewaltigungen entstanden sind, weil die eigenen Familien diese Kinder nicht akzeptieren. Das ist doch ein zusätzliches Trauma.
Schulze: Man muss sich einerseits vorstellen, dass etwa 50 bis 60 Prozent aller Jesiden traumatisiert oder posttraumatische Störungen entwickelt haben. Das ist natürlich eine Unmenge. Es sind vor allen Dingen die Frauen, die hier als Opfer zu sehen sind, und die Frauen haben natürlich eine große Last zu tragen, weil auch diese Kinder teilweise in den Lagern zurückgelassen und zum Teil sogar Opfer der Propaganda des Islamischen Staates wurden.
Einige haben sozusagen eine Gehirnwäsche erlebt und mussten dann für den Islamischen Staat kämpfen. Sich davon wieder loszulösen, aus diesem ganzen Umfeld zu lösen, ist auch für die Kinder ungeheuer schwierig. Von daher ist das wirklich eine mehrfache Traumatisierung, die die Frauen dort erlebt haben. Nicht nur, weil sie jetzt teilweise ausgeschlossen werden aus den Familien, weil sie schwanger wurden von sogenannten Islamischen-Staatskämpfern.
Billerbeck: Besteht denn für den Nordirak eine Hoffnung auf politische Stabilität, dass auch das jesidische Volk dort in Ruhe leben kann?
Schulze: Im Nordteil, im nördlichen Siedlungsgebiet der Jesiden, in Lalisch, nördlich von Mosul, existiert eine relativ intakte kurdische Verwaltung, und man kann annehmen, dass dort die jesidische Tradition einigermaßen stabil bleiben und überleben wird.
In dem Westgebiet Sindschar und in dem Sindschar-Gebirge selbst, herrschen heute die schiitischen Haschd-Milizen, und das bedeutet, dass dort weiterhin eine politische und militärische Unsicherheit existiert, die es den Jesiden sehr, sehr schwer macht, optimistisch in die Zukunft zu schauen und zu sehen, ob sie die völlig zerstörten Städte wie Sindschar und andere wieder aufbauen können.
Kampf um das kulturelle Gedächtnis der Jesiden
Billerbeck: Gibt es denn Orte, an denen das kulturelle Gedächtnis der Jesiden erhalten wird, und was passiert mit diesen Orten?
Schulze: Es sind vor allen Dingen zwei große Heiligtümer, eins in Lalisch, im Norden von Mosul, und eins in Sindschar selbst, im Westen von Mosul. Das nördliche Heiligtum wird wirklich mit Zähnen und Klauen verteidigt und wurde auch 2014, 2015 sehr militant und auch erfolgreich verteidigt.
Man sieht, dass diese Heiligtümer tatsächlich so etwas wie das kollektive Gedächtnis der Jesiden darstellen, und sie zu erhalten und sie zu verteidigen, steht fast an der Spitze der ganzen Rekonstruktionsaufgaben, die die jesidischen Gemeinden sich gestellt haben.
Es könnte sein, dass man auch in Sindschar erst mal versucht, das Heiligtum wieder aufzubauen und damit eine funktionsfähige Kultgemeinde zu schaffen, um dann anschließend auch noch weitere Leute anzusiedeln, die dann auch diese ganze Gemeinschaft wieder tragen.
Billerbeck: Gibt es genug Hilfe von außen?
Schulze: Ich denke nicht. Es gibt in erster Linie Hilfe in den Lagern selbst. Da leben 360.000 Jesiden in Irak. Auf die richtet sich eine Hilfe. Ich weiß nicht, wie umfangreich sie wirklich ist, wie viel Hilfe da wirklich ankommt. Die Jesiden befürchten im Augenblick, dass sie von der Corona-Pandemie besonders betroffen werden im Nordirak.
Das heißt also, da steht erst mal eine Hilfe an in Richtung medizinische Grundversorgung. Die Hilfe, die sie sich für den Wiederaufbau von Sindschar oder anderen Orten im Sindschar-Gebirge erhoffen, steht noch aus. Ich denke, die kurdische Regierung wird auch bisher wenig Materielles einsetzen, um diese Region wieder aufzubauen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.