Jessica Au: "Kalt genug für Schnee"

Vererbte Fremdheit

05:21 Minuten
Cover von Jessica Aus Roman "Kalt genug für Schnee".
© Suhrkamp

Jessica Au

Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit

Kalt genug für SchneeSuhrkamp, Berlin 2022

121 Seiten

20,00 Euro

Von Manuela Reichart |
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In dem neuen Roman von Jessica Au trifft sich eine Mutter mit ihrer Tochter in einer fremden Stadt. Sie versuchen, die Distanz zu überwinden, die zwischen ihnen herrscht. Aber Nähe stellt sich nicht ein. Erst ganz am Schluss gibt es einen Hoffnungsschimmer.
Die australische Autorin Jessica Au erzählt von einer ungewöhnlichen Reise. Die Tochter kommt aus Melbourne, die Mutter aus Hongkong. Sie treffen sich in Tokio. Der gemeinsame Ausflug war lange geplant.
Die beiden sind sich nicht nah, hatten nie eine vertraute gemeinsame Sprache. Die Muttersprache der einen war Kantonesisch, die der anderen Englisch. Die Mutter war als junge Frau nach Australien ausgewandert, hatte hier mühsam Englisch gelernt, ihre beiden Töchter aufgezogen und war dann zurückgekehrt nach Hongkong. Die Tochter ist in Australien zu Hause, hat dort studiert und ihre Liebe gefunden.
Es herrscht eine kalte Gefühlstemperatur zwischen den beiden Frauen. Der Titel allerdings leitet sich nicht daher ab, sondern vom Wunsch der Mutter, es möge doch einmal kalt genug sein für Schnee. Denn den hat sie noch nie gesehen.

Mutter und Tochter als Spiegelbild

Die Tochter hat ein ausführliches Programm für ihre gemeinsamen Tage zusammengestellt: Ausstellungen und Restaurantbesuche, Wanderungen und Kirchenbesichtigungen. Sie möchte mit der Mutter besondere Augenblicke teilen, Bilder anschauen, die ihr etwas bedeuten. Die Mutter freut sich jedoch, wenn sie ausführlich einkaufen kann.
Es entsteht keine Innigkeit zwischen den beiden Frauen. Sie sind höflich und bemüht, aber finden keine Gemeinsamkeit, keine Herzlichkeit. Sie können sich nicht einmal auf die wenigen Familienanekdoten einigen. Die Mutter war und ist eine Fremde in der Welt und im Verhältnis zur Tochter. Und die begreift, indem sie sich in der Mutter spiegelt, dass sie eigentlich auch immer fremd war. Wie sehr sie ihrer sanftmütigen Mutter, mit der es nie Streit gab, ähnelt.
Sie erinnert sich an einen Job während des Studiums in einem chinesischen Restaurant, in dem sie die immer höfliche junge Chinesin spielte, an das Verhältnis zum früheren Freund, dem sie nie widersprach, oder an das zu einer klugen Dozentin, der sie alles recht machen wollte. Anpassung und Ehrgeiz ziehen sich als Konstante durch ihr Leben. Und auch die Wanderung, die sie schließlich ohne die erschöpfte Mutter unternimmt, ist geplant als ein Selbstfindungs-Programmpunkt.

Sehnsüchte zweier Generationen

Jessica Au begibt sich mit diesem genau instrumentierten Roman auf eine eindrucksvolle Seelenerkundung. Es geht um ein kompliziertes Mutter-Tochter-Verhältnis, aber auch um die Erinnerungen und Selbstrecherchen einer ambitionierten jungen Frau. Und um die Frage, wie und woran wir uns erinnern, wenn wir auf das eigene Leben schauen und das unserer Eltern und Geschwister.
Es sind literarische Essenzen und Erkundungen, in denen moderne Lebensentwürfe auf alte Einwanderer-Biografien treffen. Die Sehnsüchte und Überzeugungen der Tochter sind unvereinbar mit denen der Mutter, die glaube, "dass wir alle im Grunde genommen nichts seien, nur eine Anhäufung von Gefühlen und Wünschen, die nicht von Dauer seien. Als sie aufwuchs, sagte sie, habe sie sich nie isoliert gefühlt, sondern als untrennbar mit anderen verbunden. Heutzutage, sagte sie, wollten die Menschen alles wissen und bildeten sich ein, sie könnten alles verstehen, als warte die Erleuchtung gleich hinter der Ecke. Aber in Wirklichkeit gäbe es keine Kontrolle und Verständnis lindere keinen Schmerz.“

Endlich Verständnis füreinander

Erst ganz am Ende der Reise wird die junge Frau ein wenig besser verstehen, was ihre Mutter meinte: „Vielleicht, dachte ich erschöpft, war es ja in Ordnung, wenn man nicht alles verstand, wenn man Dinge einfach wahrnahm und festhielt.“ Und genau das hat Jessica Au in diesem poetischen Roman getan: Festgehalten und wahrgenommen.
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