Jessica J. Lee: Mein Jahr im Wasser. Tagebuch einer Schwimmerin
Aus dem Englischen von Nina Frey und Hans-Christian Oeser
Berlin Verlag, Berlin/München, 2017
336 Seiten, 18,00 Euro
Trotz und Wasser
Die Kanadierin Jessica Lee wollte eine Trennung überwinden und erkundete ein Jahr lang Seen in und um Berlin. Ihr Tagebuch "Mein Jahr im Wasser" erzählt von neuen Freundschaften und alten Ängsten.
Ist dieses Buch ein Reiseführer? Ein Bericht über den Weg einer jungen Frau zu sich selbst? Oder eine Abhandlung über Umweltgeschichte, das Fach, in dem die Autorin ihre Doktorarbeit geschrieben hat? Jessica Lee verbindet all das, aber es geht ihr um mehr. Ihr Buch hängt zwischen den Genres und zwischen verschiedenen Welten wie ein Frosch im Wasser. Der Clou besteht darin, wie sie ihre Leser mit hineinzieht und zu Komplizen macht bei dem Versuch, alte Bande zu lösen, sich freizuschwimmen und einen Neustart zu wagen.
Alles beginnt mit einem verwegenen Plan. Als sie für einen Forschungsaufenthalt nach Berlin kommt, beschließt die passionierte Schwimmerin, jede Woche einen anderen See zu testen. Allein oder mit Freunden fährt sie mit S-Bahn und Fahrrad ins Umland. Auch im Herbst und Winter trotzt sie der Kälte und den Blicken besorgter Spaziergänger. Eine schwierige Zeit liegt hinter ihr, in der Natur hofft sie, Ruhe zu finden und dem Schreibtisch zu entfliehen.
Sie liest Brandenburg-Bücher von Theodor Fontane
Dabei ist ihr bewusst, dass sie kein unbeschriebenes Terrain betritt. Sie liest mehrere Brandenburg-Bücher von Theodor Fontane. Studien von Geologen und Gewässerkundlern öffnen ihr die Augen für die Landschaft. Sie erfährt, dass Gletscher die Brandenburger Seen formten, und liest nach, wie Gelehrte der Goethezeit über die Muster von Eisblumen debattierten. Auf ihren Streifzügen begegnet ihr auch die jüngere Geschichte: Honeckers Badesee, Einsteins Sommerhaus, Joseph Goebbels‘ verwahrloster Landsitz.
Während der Ausfahrten zu den 52 Seen in Berlin und Brandenburg, will sie mit ihrer eigenen Geschichte ins Reine kommen. Nach einer Trennung fiel sie ins Leere. Im Wasser kämpft sie mit Kindheitsängsten vor der Tiefe. Jessica Lee hat eine glückliche Hand für den Balanceakt eines literarischen Tagebuchs. Sie kreist um sich selbst, bleibt aber offen für Begegnungen. Es wird persönlich, auch privat, aber nicht peinlich. Sie zieht sich aus, aber so, dass man nicht beschämt zur Seite schaut, sondern den Blick der Erzählerin gern erwidert und selbst meint, das Prickeln von Eis und Sonne auf der Haut zu spüren.
Sinnlich aber nicht süßlich
Man steigt nicht zweimal in denselben See. "Wasser fühlt sich überall anders an", schreibt Lee. "Wie kühle Seide", sandig oder sämig, manchmal auch schneidend, "wie Stein. Der See ein gewetztes Messer." Dass es nie langweilig wird, ihr ein ums andere Mal ins Wasser zu folgen, ist auch ein Verdienst der Übersetzer Nina Frey und Hans-Christian Oeser. Sie halten den Ton in der Schwebe, sinnlich aber nicht süßlich. Die Autorin hat ihrerseits Spaß an deutschen Wörtern: "Arschkalt" treffe perfekt das Gefühl, wenn der Wintertag nass und so frostig ist, dass sich das Handy von selbst ausschaltet.
Jessica Lee, geboren in Kanada, mit Großeltern in China und auf den britischen Inseln, hat Berlin und Brandenburg mit einem neugierigen, oft staunenden Blick durchstreift. Nicht selten fühlte sie sich "fehl am Platz" und "uneins": "Wie ein Findling trug ich vergangene Orte mit mir herum". Beim Schwimmen hat sie innige neue Freundschaften geschlossen. Ihr aufrichtiges und abenteuerlustiges Buch handelt nicht zuletzt davon, wie es allen Widrigkeiten zum Trotz gelingt, sich einen eigenen Ort zu schaffen.